Ludwig Münstermann und das Rodenkirchener Altarretabel
,Hus' heißt eine ,Gans'). Aber über hundert Jahren werden sie
einen Schwanen singen hören. Den müssen sie erleiden.« Dabei
soll es auch bleiben, wenn Gott will."17 Wahrscheinlich gab es
schon im 16. Jahrhundert bildliche Darstellungen Luthers mit dem
Schwan. Das erste erhaltene Beispiel ist ein auf 1603 datiertes
Gemälde von Jacob Jacobsen (t 1618) aus der St. Petri-Kirche in
Hamburg.18 Münstermann dürfte dieses Bild gesehen haben. Auf
jeden Fall verwendet er das Motiv an den Altären in Varel (1614),
in Hohenkirchen (1620) und schließlich auch in Rodenkirchen.19
Zu den großen Standbildern und ihrem Rahmen (2) und (4)
Die Darstellung von Evangelisten und Aposteln ist in evangelischen
Kirchen, in denen das Schriftprinzip gilt, nicht weiter auffällig.
Trotzdem erhebt sich bei einem so sorgfältig durchdachten Bild-
programm, wie es dem Rodenkirchener Altar zugrunde liegt, die
Frage, warum der Evangelist Matthäus doppelt vorkommt: als
große Standfigur neben dem Hauptbild und als erster in der Reihe
der vier Evangelisten im 3.-5. Stockwerk. Die wahrscheinlichste
Antwort dürfte sein: weil Münstermann und seine Auftraggeber
hier - wie auch in anderen Kirchen - das Patrozinium beachtet
haben. Möglicherweise bewahrt die Matthäusstatue die Erinnerung
an den Vorgängeraltar, der wohl ein entsprechendes Bild des
Kirchenpatrons20 enthalten haben dürfte. Da in Rodenkirchen die
weiteren Patrozinien nur lückenhaft bekannt sind, muß offen
bleiben, ob Paulus in der mittelalterlichen Kirche (vielleicht an
einem der Nebenaltäre) schon besonders verehrt worden ist und
aus diesem Grunde das Pendant zu Matthäus bildet. Doch davon
abgesehen erhalten Matthäus und Paulus durch ihre Stellung zum
Mittelbild eine besondere, auf das Abendmahl bezogene Funktion
als biblische Hauptzeugen. Matthäus ist der meistgelesene Evan-
gelist, dessen Bericht vom Abendmahl anders als bei Markus
und Lukas auf eigenes Erleben zurückgeführt werden durfte (bei
Johannes, der gleichfalls Augenzeuge war, fehlen die Einsetzungs-
worte). Paulus zeichnet sich dadurch aus, daß bei ihm die Ein-
setzungsworte nicht nur am ausführlichsten zitiert, sondern auch
in den Kapiteln 10 und 11 des 1. Korintherbriefs und im Hebräer-
brief, den das 17. Jahrhundert für einen Paulusbrief hielt, am
vielseitigsten ausgelegt werden.
Ungeklärt ist bisher der eigentümliche Tatbestand, daß die
vier Hauptsäulen je einen Namen tragen. Diese Namen sind - für
den Betrachter verborgen - auf die untere Standfläche geschrie-
ben: Candor (Lauterkeit), Aequitas (Billigkeit), Simplicitas (Schlicht-
heit) und Reverentia (Andacht). Die Namen gleichen denen der
Tugenden und würden deren Zahl auf 18 erhöhen.21
Die vier Hauptsäulen geben aber noch ein anderes Rätsel auf.
Einerseits ruht auf ihnen eine große Last: das Gebälk mit dem
großen Korbbogen über dem Mittelbild und damit alle weiteren
Stockwerke des Altars. Andererseits stehen sie nicht auf ihren
Basen, sondern berühren diese nur von oben mit leichten, durch-
sichtigen Volutenspangen, die mit Engelsköpfen besetzt sind.
Auch den weiter hinten liegenden seitlichen Säulen des Abend-
mahlsaales fehlt ein belastbares Fundament, da sie auf leichten,
portalartig gestalteten Konstruktionen stehen. All dies erweckt
das Gefühl des Schwebens und der Schwerelosigkeit.22 Für die
lutherische Frömmigkeit liegt als Deutung am nächsten: das Bild
des „neuen Jerusalem", das nach der Offenbarung des Johannes
(21, 2) am Ende der Zeit aus dem Himmel „herabfährt" (herab-
schwebt) und mit der Vorstellung des himmlischen Abendmahls
als Bestandteil der ewigen Seligkeit fest verbunden ist. Ein bis
heute bekanntes literarisches Zeugnis dafür ist das 1599 entstan-
dene Lied des lutherischen Predigers Philipp Nocolai „Wachet auf,
ruft uns die Stimme" (EG 147).
Zum Hauptbild: Christi Abendmahl (3)
Für die künstlerische Gestaltung des Altars gab Luther 1530 fol-
gende Empfehlung: „Wer hie Lust hätte, Tafeln auf den Altar
lassen zu setzen, der sollte lassen das Abendmahl Christi malen...
Denn weil der Altar dazu geordnet ist, daß man das Sakrament
drauf handeln solle, so könnte man kein besser Gemälde dran
machen..."23 Diesem Rat folgt - wenngleich mit der Kunst des
Bildschnitzers - der Rodenkirchener Altar. Der zentrale Bildge-
danke ist dabei, daß Christus nicht nur bei dem damaligen ersten
Abendmahl, sondern kraft seines Stifterwillens als erhöhter und
gegenwärtiger Herr bei jedem Abendmahl, das an diesem Altar
in Rodenkirchen gefeiert wird, die materia coelestis (himmlische
Speise) unter Brot und Wein „gibt". Das Bild hält den Augenblick
fest, an dem Christus als Gastgeber und Herr des Mahles soeben
das Brot austeilt und sich anschickt, mit der Linken den Kelch zu
reichen. Die dabei gesprochenen Worte sind auf den Seitentafeln
aufgezeichnet. Freilich beschränkt sich Münstermann nicht auf
diesen engeren Vorgang der Stiftung selbst, sondern fügt weitere
Elemente hinzu.
Das Osterlamm, das auf einer Schüssel vor Jesu liegt, weist
darauf hin, daß das Abendmahl typologisch auf das alttestament-
liche Passamahl bezogen ist, das freilich künftig nicht mehr gefeiert
wird, weil Christus nach den Worten Johannes des Täufers nun-
mehr das eigentliche Passalamm ist, das durch seinen Opfertod
der Welt Sünde trägt.
Auf die Ankündigung Jesu: „Einer unter euch wird mich
verraten" folgt die erregte Reaktion der Jünger: „Herr, bin ich's?"
(Matth 26,21).
Judas Ischariot, der den Beutel trägt, schickt sich zum Auf-
bruch an (Joh 13,29 f).
Hinter dem Abendmahlssaal öffnet sich das Allerheiligste
des Tempels. Nach dem Hebräerbrief (Kap. 7-9), der wie erwähnt
in der altprotestantischen Orthodoxie des 17. Jahrhunderts (ent-
gegen Luthers Auffassung) als ein Brief des Apostels Paulus galt,
ist Christus der Hohepriester seiner Kirche. Er geht in das himm-
lische Heiligtum ein, das im Allerheiligsten des Jerusalemer Tempels
prophetisch (typologisch) vorgebildet ist. Wie bei der irdischen
Bundeslade sind auch bei der himmlischen auf dem Deckel - dem
sog. Gnadenstuhl - die beiden Cheruben angebracht, welche in
der Reformation regelmäßig als Verkörperung von Gesetz und
Evangelium interpretiert werden. Diese himmlische Bundeslade
repräsentiert den neuen Bund oder - anders übersetzt - das neue
Testament, von dem das Kelchwort spricht und dessen Hauptin-
halt die Sündenvergebung ist.
Daß der Raum hinter dem Abendmahlssaal nicht das Aller-
heiligste des irdischen Jerusalemer Tempels wiedergibt, sondern
das Allerheiligste des himmlischen Jerusalem, in welches Jesus
einging (Hebr 9, 24), läßt sich an den trinitarischen Inschriften
des Kuppelgewölbes erkennen: „Der Vater ist Gott", „Der Sohn
ist Gott" und „Der heilige Geist ist Gott". Diese drei Sätze sind
auf den Scheitelpunkt der Kuppel bezogen, wo das hebräische
Tetragramm (IHWH, früher in der philologisch anfechtbaren Form
„Jehova" aussprechbar gemacht) als Gottesname im Strahlen-
kranz die Gegenwart Gottes anzeigt; schon in der Darstellung der
Verkündigung begegnete dieser Strahlenkranz (I.A.1). Die gesamte
Komposition beruht offenkundig auf der oben schon erwähnten
Stelle in Luthers großer Abendmahlsschrift „Vom Abendmahl Chri-
sti", wo mit Hilfe der Trinitätslehre bewiesen wird, daß zwei Sub-
stanzen zugleich an einem Ort sein können. Luthers Beweis läuft
so: Die Lehre von der heiligen Dreifaltigkeit besagt, „daß der Vater
und Sohn und heiliger Geist seien drei unterschiedliche Personen;
dennoch ist eine jegliche der einige [eine] Gott", so daß gilt: „...
Gott sei der Vater, Gott sei der Sohn, Gott sei der heilige Geist,
30
,Hus' heißt eine ,Gans'). Aber über hundert Jahren werden sie
einen Schwanen singen hören. Den müssen sie erleiden.« Dabei
soll es auch bleiben, wenn Gott will."17 Wahrscheinlich gab es
schon im 16. Jahrhundert bildliche Darstellungen Luthers mit dem
Schwan. Das erste erhaltene Beispiel ist ein auf 1603 datiertes
Gemälde von Jacob Jacobsen (t 1618) aus der St. Petri-Kirche in
Hamburg.18 Münstermann dürfte dieses Bild gesehen haben. Auf
jeden Fall verwendet er das Motiv an den Altären in Varel (1614),
in Hohenkirchen (1620) und schließlich auch in Rodenkirchen.19
Zu den großen Standbildern und ihrem Rahmen (2) und (4)
Die Darstellung von Evangelisten und Aposteln ist in evangelischen
Kirchen, in denen das Schriftprinzip gilt, nicht weiter auffällig.
Trotzdem erhebt sich bei einem so sorgfältig durchdachten Bild-
programm, wie es dem Rodenkirchener Altar zugrunde liegt, die
Frage, warum der Evangelist Matthäus doppelt vorkommt: als
große Standfigur neben dem Hauptbild und als erster in der Reihe
der vier Evangelisten im 3.-5. Stockwerk. Die wahrscheinlichste
Antwort dürfte sein: weil Münstermann und seine Auftraggeber
hier - wie auch in anderen Kirchen - das Patrozinium beachtet
haben. Möglicherweise bewahrt die Matthäusstatue die Erinnerung
an den Vorgängeraltar, der wohl ein entsprechendes Bild des
Kirchenpatrons20 enthalten haben dürfte. Da in Rodenkirchen die
weiteren Patrozinien nur lückenhaft bekannt sind, muß offen
bleiben, ob Paulus in der mittelalterlichen Kirche (vielleicht an
einem der Nebenaltäre) schon besonders verehrt worden ist und
aus diesem Grunde das Pendant zu Matthäus bildet. Doch davon
abgesehen erhalten Matthäus und Paulus durch ihre Stellung zum
Mittelbild eine besondere, auf das Abendmahl bezogene Funktion
als biblische Hauptzeugen. Matthäus ist der meistgelesene Evan-
gelist, dessen Bericht vom Abendmahl anders als bei Markus
und Lukas auf eigenes Erleben zurückgeführt werden durfte (bei
Johannes, der gleichfalls Augenzeuge war, fehlen die Einsetzungs-
worte). Paulus zeichnet sich dadurch aus, daß bei ihm die Ein-
setzungsworte nicht nur am ausführlichsten zitiert, sondern auch
in den Kapiteln 10 und 11 des 1. Korintherbriefs und im Hebräer-
brief, den das 17. Jahrhundert für einen Paulusbrief hielt, am
vielseitigsten ausgelegt werden.
Ungeklärt ist bisher der eigentümliche Tatbestand, daß die
vier Hauptsäulen je einen Namen tragen. Diese Namen sind - für
den Betrachter verborgen - auf die untere Standfläche geschrie-
ben: Candor (Lauterkeit), Aequitas (Billigkeit), Simplicitas (Schlicht-
heit) und Reverentia (Andacht). Die Namen gleichen denen der
Tugenden und würden deren Zahl auf 18 erhöhen.21
Die vier Hauptsäulen geben aber noch ein anderes Rätsel auf.
Einerseits ruht auf ihnen eine große Last: das Gebälk mit dem
großen Korbbogen über dem Mittelbild und damit alle weiteren
Stockwerke des Altars. Andererseits stehen sie nicht auf ihren
Basen, sondern berühren diese nur von oben mit leichten, durch-
sichtigen Volutenspangen, die mit Engelsköpfen besetzt sind.
Auch den weiter hinten liegenden seitlichen Säulen des Abend-
mahlsaales fehlt ein belastbares Fundament, da sie auf leichten,
portalartig gestalteten Konstruktionen stehen. All dies erweckt
das Gefühl des Schwebens und der Schwerelosigkeit.22 Für die
lutherische Frömmigkeit liegt als Deutung am nächsten: das Bild
des „neuen Jerusalem", das nach der Offenbarung des Johannes
(21, 2) am Ende der Zeit aus dem Himmel „herabfährt" (herab-
schwebt) und mit der Vorstellung des himmlischen Abendmahls
als Bestandteil der ewigen Seligkeit fest verbunden ist. Ein bis
heute bekanntes literarisches Zeugnis dafür ist das 1599 entstan-
dene Lied des lutherischen Predigers Philipp Nocolai „Wachet auf,
ruft uns die Stimme" (EG 147).
Zum Hauptbild: Christi Abendmahl (3)
Für die künstlerische Gestaltung des Altars gab Luther 1530 fol-
gende Empfehlung: „Wer hie Lust hätte, Tafeln auf den Altar
lassen zu setzen, der sollte lassen das Abendmahl Christi malen...
Denn weil der Altar dazu geordnet ist, daß man das Sakrament
drauf handeln solle, so könnte man kein besser Gemälde dran
machen..."23 Diesem Rat folgt - wenngleich mit der Kunst des
Bildschnitzers - der Rodenkirchener Altar. Der zentrale Bildge-
danke ist dabei, daß Christus nicht nur bei dem damaligen ersten
Abendmahl, sondern kraft seines Stifterwillens als erhöhter und
gegenwärtiger Herr bei jedem Abendmahl, das an diesem Altar
in Rodenkirchen gefeiert wird, die materia coelestis (himmlische
Speise) unter Brot und Wein „gibt". Das Bild hält den Augenblick
fest, an dem Christus als Gastgeber und Herr des Mahles soeben
das Brot austeilt und sich anschickt, mit der Linken den Kelch zu
reichen. Die dabei gesprochenen Worte sind auf den Seitentafeln
aufgezeichnet. Freilich beschränkt sich Münstermann nicht auf
diesen engeren Vorgang der Stiftung selbst, sondern fügt weitere
Elemente hinzu.
Das Osterlamm, das auf einer Schüssel vor Jesu liegt, weist
darauf hin, daß das Abendmahl typologisch auf das alttestament-
liche Passamahl bezogen ist, das freilich künftig nicht mehr gefeiert
wird, weil Christus nach den Worten Johannes des Täufers nun-
mehr das eigentliche Passalamm ist, das durch seinen Opfertod
der Welt Sünde trägt.
Auf die Ankündigung Jesu: „Einer unter euch wird mich
verraten" folgt die erregte Reaktion der Jünger: „Herr, bin ich's?"
(Matth 26,21).
Judas Ischariot, der den Beutel trägt, schickt sich zum Auf-
bruch an (Joh 13,29 f).
Hinter dem Abendmahlssaal öffnet sich das Allerheiligste
des Tempels. Nach dem Hebräerbrief (Kap. 7-9), der wie erwähnt
in der altprotestantischen Orthodoxie des 17. Jahrhunderts (ent-
gegen Luthers Auffassung) als ein Brief des Apostels Paulus galt,
ist Christus der Hohepriester seiner Kirche. Er geht in das himm-
lische Heiligtum ein, das im Allerheiligsten des Jerusalemer Tempels
prophetisch (typologisch) vorgebildet ist. Wie bei der irdischen
Bundeslade sind auch bei der himmlischen auf dem Deckel - dem
sog. Gnadenstuhl - die beiden Cheruben angebracht, welche in
der Reformation regelmäßig als Verkörperung von Gesetz und
Evangelium interpretiert werden. Diese himmlische Bundeslade
repräsentiert den neuen Bund oder - anders übersetzt - das neue
Testament, von dem das Kelchwort spricht und dessen Hauptin-
halt die Sündenvergebung ist.
Daß der Raum hinter dem Abendmahlssaal nicht das Aller-
heiligste des irdischen Jerusalemer Tempels wiedergibt, sondern
das Allerheiligste des himmlischen Jerusalem, in welches Jesus
einging (Hebr 9, 24), läßt sich an den trinitarischen Inschriften
des Kuppelgewölbes erkennen: „Der Vater ist Gott", „Der Sohn
ist Gott" und „Der heilige Geist ist Gott". Diese drei Sätze sind
auf den Scheitelpunkt der Kuppel bezogen, wo das hebräische
Tetragramm (IHWH, früher in der philologisch anfechtbaren Form
„Jehova" aussprechbar gemacht) als Gottesname im Strahlen-
kranz die Gegenwart Gottes anzeigt; schon in der Darstellung der
Verkündigung begegnete dieser Strahlenkranz (I.A.1). Die gesamte
Komposition beruht offenkundig auf der oben schon erwähnten
Stelle in Luthers großer Abendmahlsschrift „Vom Abendmahl Chri-
sti", wo mit Hilfe der Trinitätslehre bewiesen wird, daß zwei Sub-
stanzen zugleich an einem Ort sein können. Luthers Beweis läuft
so: Die Lehre von der heiligen Dreifaltigkeit besagt, „daß der Vater
und Sohn und heiliger Geist seien drei unterschiedliche Personen;
dennoch ist eine jegliche der einige [eine] Gott", so daß gilt: „...
Gott sei der Vater, Gott sei der Sohn, Gott sei der heilige Geist,
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