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Kimpflinger, Wolfgang; Neß, Wolfgang; Zittlau, Reiner; Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege [Hrsg.]; Institut für Denkmalpflege [Hrsg.]
Arbeitshefte zur Denkmalpflege in Niedersachsen: Das Fagus-Werk in Alfeld als Weltkulturerbe der UNESCO: Dokumentation des Antragsverfahrens — [Hannover]: Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege, Heft 39.2011

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Vorwort
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https://doi.org/10.11588/diglit.51160#0008
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Vorwort

Die Denkmalpflege ist ein Kind des 19. Jahrhun-
derts. Sie bildete sich in zunehmendem Gegen-
satz zu den romantischen und idealtypischen
Projektionen des Biedermeier, der Revolution
von 1848 und der ersten Jahrzehnte des Kaiser-
reiches aus und entwickelte sich zu einer Wis-
senschaft, die den historischen Wert und die Be-
deutung des gebauten und des archäologisch
erhaltenen Erbes einer Gesellschaft auf wissen-
schaftlicher Basis definiert und erforscht.
Historische Wissenschaften arbeiten kompara-
tiv, sie stellen Bezüge, Abhängigkeiten oder Un-
terschiede fest und erstellen aus ihnen Ge-
schichtsbilder. Dies setzt voraus, dass die Ge-
samtheitallereinschlägigen Quellen, im Falle der
Denkmalpflege der Bauwerke und Bodendenk-
male, herangezogen und zueinander in Bezie-
hung gesetzt wird. Wie gut das der Denkmal-
pflege in den vergangenen 100 Jahren gelun-
gen ist, zeigt der populärste und international
erfolgreichste Denkmal-Wettbewerb, nämlich
derjenige um die Aufnahme in die von der
UNESCO geführte Liste des Weltkulturerbes.
Wie kann ein Denkmal Weltkulturerbe werden?
Es muss in erster Linie „outstanding universal va-
lue", also herausragenden universellen Wert
besitzen. Ein solcher Wert kann nur über Ver-
gleiche, über die Definition der Rolle erkannt
werden, die ein Objekt im baulichen oder ar-
chäologischen Kontext seiner Entstehungszeit
spielt. Eben dieses Geschäft besorgen Denkmal-
pfleger und es ist ihnen offensichtlich in Nieder-
sachsen in jüngster Zeit recht gut gelungen.
Nach der Erweiterung des Weltkulturerbes Gos-
lar-Rammelsberg um die Oberharzer Wasser-
wirtschaft 2010 konnte 2011, genau zu seinem
100. Geburtstag, das Fagus-Werk in Alfeld in die
Weltkulturerbeliste eingetragen werden.
Solch ein Erfolg hat nicht nur einen Vater und
natürlich sind es vor allen Dingen hier die Eigen-
tümer, die ihren Besitz in vorbildlicher Weise er-
halten haben und denen der Löwenanteil am
Verdienst gebührt. Der Familie Greten, den
Nachfahren des Bauherren und Fabrikgründers
Carl Benscheidt, gilt daher unser besonderer
Dank und unsere ungeteilte Anerkennung. Mit
in diesen Dank einschließen will ich aber auch
meine Kolleginnen und Kollegen vom Nieder-
sächsischen Landesamt für Denkmalpflege, die
zusammen mit dem Unternehmen die fachge-
rechte Wiederherstellung des Fabrikgebäudes

begleiteten. Sie haben die Rolle des Fagus-
Werks, des Erstlings des späteren Bauhaus-Di-
rektors Walter Gropius, als Initialbau der Moder-
ne kenntnisreich herausgearbeitet, in internatio-
nale Bezüge gesetzt und so den herausragen-
den universellen Wert unwiderlegbar begrün-
det. Das einmütige Votum der UNESCO-Kom-
mission war der Lohn dieser Arbeit.
Auf den ersten Blick will das Fagus-Werk nicht
zum landläufigen Bild der Zeit vor dem Ersten
Weltkrieg passen, das vornehmlich durch Asso-
ziationen wie Zylinder und Bratenrock, Kaiser
Wilhelm II., Feuerzangenbowle oder den Haupt-
mannvon Köpenick geprägt ist. Unddasistauch
gar nicht falsch, wenn wir bedenken, dass im
selben Zeitraum nicht nur das Fagus-Werk, son-
dern auch das hannoversche Rathaus, ein wahr-
haft monumentaler Bau in reichster Gründer-
zeitarchitektur, entstand. Gerade die Zeit des fin
de siede zwischen etwa 1890 und 1914 war
aber unendlich heterogen. 1900, also elf Jahre
vor Gropius' erstem Auftrag, hatte Picasso sei-
ne erste Einzelausstellung in Paris, 1905 formier-
te sich in Dresden die Künstlergruppe „Die Brü-
cke", 1911, im selben Jahr, als das Fagus-Werk
entstand, bildete sich um Wassily Kandinsky der
„Blaue Reiter", 1916 erwachte die revolutionä-
re Kunst- und Literaturrichtung des Dadaismus.
Das Ende der alten Ordnung schien absehbar,
doch statt der erhofften Befreiung vom starren
und obrigkeitsstaatlichen Diktat kam es anders.
Der Erste Weltkrieg erstickte alle Ansätze der Be-
freiung in einem Meer von Blut und in seiner Fol-
ge entstanden die barbarischen Diktaturen, die
weite Teile des 20. Jahrhunderts beherrschen
sollten.
Das Fagus-Werk steht mit seinen klaren Linien,
seinen Licht durchfluteten Räumen, seiner no-
blen Eleganz und Schönheit für die Möglichkei-
ten, die im 19. Jahrhundert in der Folge von Re-
volution, Romantik und Realismus angelegt wa-
ren. Das Menschenbild, aus dem Bauherr und
Architekt ihr Werk schufen, ist von Humanismus
und Wertschätzung geprägt. Nicht umsonst hat
Carl Benscheidt seine Mitarbeiter als das wert-
vollste Gut seiner Firma bezeichnet, nicht um-
sonst hat Walter Gropius die soziale Frage als die
große Frage der Zukunft gesehen und in ihr die
Richtschnur seiner Architektur erblickt, nicht
umsonst musste er während der nationalsozia-
listischen Herrschaft in die USA emigrieren. Die
Idee des Bauhauses, die noch vor dessen Grün-
 
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