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Kimpflinger, Wolfgang; Neß, Wolfgang; Zittlau, Reiner; Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege [Editor]; Institut für Denkmalpflege [Editor]
Arbeitshefte zur Denkmalpflege in Niedersachsen: Das Fagus-Werk in Alfeld als Weltkulturerbe der UNESCO: Dokumentation des Antragsverfahrens — [Hannover]: Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege, Heft 39.2011

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3. Begründung für die Eintragung
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https://doi.org/10.11588/diglit.51160#0064
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3. Begründung für die Eintragung

3. A Kriterien, denen zufolge die Eintragung beantragt wird


Abb. 80: Ansicht von der Bahnseite und Ansicht von Südost, Entwurfszeichnung Gropius (1911)

(I) Die nominierte Anlage stellt ein Meister-
werk der menschlichen Schöpferkraft dar.1
Mit dem Fagus-Werk errichtete Walter Gropius
ab 1911 das Fundament der modernen Archi-
tektur. Vor allem das Bürogebäude dieser kom-
plexen Industrieanlage bot dem damals 27-jäh-
rigen Architekten die Chance, seine revolutio-
nären Vorstellungen von moderner Architektur
an einem Projekt von beträchtlichem Umfang zu
realisieren. Die Materialien Stahl und Glas, die
bereits im 19. Jahrhundert zu großartigen Inge-
nieurleistungen geführt hatten, sind von Gropi-
us erstmals einem grundlegend neuartigen
Formwillen unterworfen worden. Im Gegensatz
zu den Eisen- und Glaskonstruktionen der vie-
len Ingenieurbauten des 19. Jahrhunderts ent-
wickelte Gropius tektonisch gedachte Baukör-
per und Räume, die, von Präzision, Strenge und
Knappheit gekennzeichnet, der modernen Ar-
chitektur ihren Weg in das 20. Jahrhundert wie-
sen.
Die konstruktiven Möglichkeiten des Bauens mit
Stahl und Glas wurden erstmals einem radikal
modernen künstlerischen Entwurf dienstbar ge-
macht. Die Außenwand des Gebäudes wird nur
noch als transparente, raumschließende Hülle
aufgefasst und künstlerisch visualisiert durch
vorgesetzte, großflächig verglaste und subtil ge-
gliederte Stahlrahmenkonstruktionen, die stüt-
zenfrei um die Gebäudeecken herumgeführt
sind.
Das Fagus-Werk nur als Initialbau seiner mas-
senhaften, ästhetisch überhöhten Reproduktio-
nen und als zeitloses Kunstwerk von internatio-
nalem Rang zu beurteilen, wird seiner künstle-
rischen Bedeutung nicht gerecht. Erst vor Ort
und als Dokumentseiner Zeit wird der Anspruch
dieser Architektur verständlich. Die unweit ge-

legene, gleichsam düstere und monumentale
Backsteinarchitektur zeitgleicher Industrieanla-
gen weicht hier einer völlig neuen Formenspra-
che. Die Industrieform wird mit künstlerischen
Mitteln in eine in sich geschlossene Kunstform
verwandelt, ohne den Ort der industriellen Fer-
tigung zu leugnen. Auf der Basis einer akade-
mischen Ausbildung und mit der Orientierung
an den Raum- und Gestaltwerten des deutschen
Klassizismus wurde von Gropius eine adäquate
Verwendung der neuen Materialien Stahl und
Glas in Verbindung mit Holz und Ziegelmauer-
werk gesucht. Das Ergebnis ist eine Loslösung
von eklektizistischen Stiladaptionen, eine mo-
derne Materialästhetik und die Konzentration
auf die dreidimensionale Anschauungswelt des
künftigen Nutzers und Rezipienten. Die Indust-
riearchitektur wird zum Kunstwerk erhoben, oh-
ne den Sehgewohnheiten einer akademischen
Ästhetik zu folgen: „Der Geniestreich des jun-
gen Gropius übertrifft an architektonischer
Kühnheit und künstlerischer Innovation nahezu
alle Bauten vor dem Ersten Weltkrieg und ist in
seiner Bedeutung für die gesamte Architektur
des 20. Jahrhunderts gar nicht hoch genug ein-
zuschätzen" (Nerdinger, 1985, S. 36).
Mit seiner komplexen Verflechtung von ästheti-
schen, psychologischen, sozialen und techni-
schen Funktionsansprüchen stellt das Fagus-
Werk an der Schwelle einer neuen Zeit ein Meis-
terwerk des schöpferischen Geistes dar, in dem
sich die theoretischen Grundlagen für die Ent-
wicklung der Architektur des 20. Jahrhunderts
zum ersten Mal manifestieren.
Anmerkung 1: In Abänderung des Antragstextes hat die
UNESCO mit ihrer Entscheidung am 25.06.2011 statt
Kriterium I, Kriterium IV zur Anwendung gebracht (siehe
Einleitung).

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