Die deutsche Bewegung. (Rückblick.)
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Gross waren die Hoffnungen, die sich an das deutsche Parlament knüpften.
Zum ersten Mal seit Jahrhunderten konnte Deutschland, wie „mehrere Bericht-
erstatter aus der Gegenwart“ ausführlicher darthun, unbekümmert um die Politik
des mit sich selbst beschäftigten Auslandes, selbstständig und frei handeln, un-
gehindert an eine nationale Gestaltung gehen. Dazu hatte es in freier, all-
gemeiner Wahl, wie sie noch nie dagewesen, die Besten und Tüchtigsten nach
Frankfurt gesendet. Am 18. Mai 1848, Mittags 3 Uhr,l traten gegen 330 Ab-
geordnete (deren Anzahl sich später fast um das Doppelte vermehrte) im Kaiser-
saale des Römers (Rathhauses) zusammen, und zogen, mit ihrem Alterspräsidenten
Dr. Lang aus Verden an der Spitze, nach der Paulskirche, in welcher sich die
Versammlung für constituirt erklärte. Heinrich von Gagern ward zum
Präsidenten, Soiron zum Vicepräsidenten erwählt. Bereits bei den ersten Ver-
handlungen ward die Wirksamkeit des Parlaments zu einer Streitfrage erhoben.
Der preussische Abgeordnete von Vincke trat der Mehrheit mit Klarheit und
Entschiedenheit entgegen. Das Volk, sagte er, habe dem Parlamente nicht die
Vollmacht gegeben, allein über Deutschland zu entscheiden. Es handle sich
auch hier nicht um die Volkssouverainetät, sondern (und dies hiess allerdings
den Nagel auf den Kopf treffen) um das Verhältniss Deutschlands zu
den einzelnen Staaten. ,,Ich behaupte nun“, fuhr er fort, „das preussische,
das österreichische, das bairische Volk sind ebenso souverain, wie die übrigen
35 Völker, die jetzt noch in Deutschland existiren. Ich bedauere lebhaft,
das jetzt noch 38 verschiedene Nationen in Deutschland vorhanden sind. Die
Ereignisse werden in letzter Instanz entscheiden.... Sie haben
keine Executivmacht . . . Wenn die Stimme der Mehrheit des Volks nicht für
Sie ist, so werden Sie schwach sein“. — Werner aus Coblenz, der ihn zu
widerlegen auftrat, bewies freilich mit leichter Mühe, dass eine deutsche Ver-
fassung nie zu Stande kommen könne, wenn sie noch der Zustimmung von so
vielen Staaten und Regierungen bedürfe; aber er unterliess es, hieraus die ein-
zig richtige Folgerung zu ziehen, dass die Nationalversammlung entweder sich
mit den bedeutendsten dieser Regierungen verständigen, oder deren augenblick-
liche Machtlosigkeit rasch benutzen, und die deutsche Bewegung zu solcher
Spannkraft steigern müsse, dass jene für immer unfähig zum Widerstande
blieben. Äusser Diesem gab es nur ein Drittes: Das Werk als unmöglich auf-
zugeben. „DieoEreignsse entschieden in letzter Instanz“ für dieses Dritte.
Nächstdem traten, vom 19. Juni ab Verhandlungen über Gründung einer
Centralgewalt ein. Heckscher erklärte, dass er den Regierungen nur das
Vorschlagsrecht, die Ernennung aber dem Parlament in die Hände geben wolle.
Behr aus Würzburg warnte vor der einseitigen Schaffung einer Vollzugsbe-
hörde, da die wirkliche Kraft doch noch immer bei den Regierungen geblieben
sei. Es war das erste Mal, dass die wunde Stelle des Parlaments offen gelegt
wurde, aber noch achtete Niemand darauf, vielmehr legte der Würtemberger
Rheinwald gegen jede Ernennung der Centralgewalt durch die Fürsten feier-
liche Verwahrung ein; da beschritt der Abgeordnete General von Radowitz
die Rednerbühne, von den Einen mit Misstrauen, von den Andern mit Hass,
von fast Allen mit Abneigung empfangen. Die Vergangenheit des Mannes liess
ihn als einen fremdartigen Gast in St. Paul erscheinen. War er doch der ver-
traute Freund seines Königs, welcher vor kaum einem Jahre mit gottentlehnter
Macht dem Verfassungswesen entgegenzutreten gelobt hatte; war er doch, so
hiess es, der bedeutendste Träger jener mittelalterlichen Ideen, mit welchen
man die Gegenwart aufzurichten gedachte. Was indessen die unfreundliche
Stimmung der Versammlung zu mildern vermochte, das war der Eindruck einer
geistvollen Persönlichkeit, die unmittelbar in seinen ernst-schönen Zügen hervor-
trat. Die Erinnerung an seine einflussreiche Stellung und an mächtige Ver-
bindungen verlieh seinen Worten ein Gewicht, das um so schwerer in die
Waagschale fiel, je einfacher und bestimmter seine Rede klang, die Rede eines
Mannes, der mit der Zeit des Andern ebenso sparsam umging, wie er es mit der
seinigen gewohnt sein musste. Jeder Satz hatte seinen Inhalt, und der nächste
schloss sich als nothwendige Folge an; nirgend ein Wort zuviel, nie ein über-
flüssiges Verweilen, um etwa im Vorübergehen ein Redeblümchen zu pflücken.
In scharfer Linie und geschlossenen Gliedern ging seine Beweisführung auf ein
Catalog der v. Kadowitz’scheu Autographen-Sammlung. 94
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Gross waren die Hoffnungen, die sich an das deutsche Parlament knüpften.
Zum ersten Mal seit Jahrhunderten konnte Deutschland, wie „mehrere Bericht-
erstatter aus der Gegenwart“ ausführlicher darthun, unbekümmert um die Politik
des mit sich selbst beschäftigten Auslandes, selbstständig und frei handeln, un-
gehindert an eine nationale Gestaltung gehen. Dazu hatte es in freier, all-
gemeiner Wahl, wie sie noch nie dagewesen, die Besten und Tüchtigsten nach
Frankfurt gesendet. Am 18. Mai 1848, Mittags 3 Uhr,l traten gegen 330 Ab-
geordnete (deren Anzahl sich später fast um das Doppelte vermehrte) im Kaiser-
saale des Römers (Rathhauses) zusammen, und zogen, mit ihrem Alterspräsidenten
Dr. Lang aus Verden an der Spitze, nach der Paulskirche, in welcher sich die
Versammlung für constituirt erklärte. Heinrich von Gagern ward zum
Präsidenten, Soiron zum Vicepräsidenten erwählt. Bereits bei den ersten Ver-
handlungen ward die Wirksamkeit des Parlaments zu einer Streitfrage erhoben.
Der preussische Abgeordnete von Vincke trat der Mehrheit mit Klarheit und
Entschiedenheit entgegen. Das Volk, sagte er, habe dem Parlamente nicht die
Vollmacht gegeben, allein über Deutschland zu entscheiden. Es handle sich
auch hier nicht um die Volkssouverainetät, sondern (und dies hiess allerdings
den Nagel auf den Kopf treffen) um das Verhältniss Deutschlands zu
den einzelnen Staaten. ,,Ich behaupte nun“, fuhr er fort, „das preussische,
das österreichische, das bairische Volk sind ebenso souverain, wie die übrigen
35 Völker, die jetzt noch in Deutschland existiren. Ich bedauere lebhaft,
das jetzt noch 38 verschiedene Nationen in Deutschland vorhanden sind. Die
Ereignisse werden in letzter Instanz entscheiden.... Sie haben
keine Executivmacht . . . Wenn die Stimme der Mehrheit des Volks nicht für
Sie ist, so werden Sie schwach sein“. — Werner aus Coblenz, der ihn zu
widerlegen auftrat, bewies freilich mit leichter Mühe, dass eine deutsche Ver-
fassung nie zu Stande kommen könne, wenn sie noch der Zustimmung von so
vielen Staaten und Regierungen bedürfe; aber er unterliess es, hieraus die ein-
zig richtige Folgerung zu ziehen, dass die Nationalversammlung entweder sich
mit den bedeutendsten dieser Regierungen verständigen, oder deren augenblick-
liche Machtlosigkeit rasch benutzen, und die deutsche Bewegung zu solcher
Spannkraft steigern müsse, dass jene für immer unfähig zum Widerstande
blieben. Äusser Diesem gab es nur ein Drittes: Das Werk als unmöglich auf-
zugeben. „DieoEreignsse entschieden in letzter Instanz“ für dieses Dritte.
Nächstdem traten, vom 19. Juni ab Verhandlungen über Gründung einer
Centralgewalt ein. Heckscher erklärte, dass er den Regierungen nur das
Vorschlagsrecht, die Ernennung aber dem Parlament in die Hände geben wolle.
Behr aus Würzburg warnte vor der einseitigen Schaffung einer Vollzugsbe-
hörde, da die wirkliche Kraft doch noch immer bei den Regierungen geblieben
sei. Es war das erste Mal, dass die wunde Stelle des Parlaments offen gelegt
wurde, aber noch achtete Niemand darauf, vielmehr legte der Würtemberger
Rheinwald gegen jede Ernennung der Centralgewalt durch die Fürsten feier-
liche Verwahrung ein; da beschritt der Abgeordnete General von Radowitz
die Rednerbühne, von den Einen mit Misstrauen, von den Andern mit Hass,
von fast Allen mit Abneigung empfangen. Die Vergangenheit des Mannes liess
ihn als einen fremdartigen Gast in St. Paul erscheinen. War er doch der ver-
traute Freund seines Königs, welcher vor kaum einem Jahre mit gottentlehnter
Macht dem Verfassungswesen entgegenzutreten gelobt hatte; war er doch, so
hiess es, der bedeutendste Träger jener mittelalterlichen Ideen, mit welchen
man die Gegenwart aufzurichten gedachte. Was indessen die unfreundliche
Stimmung der Versammlung zu mildern vermochte, das war der Eindruck einer
geistvollen Persönlichkeit, die unmittelbar in seinen ernst-schönen Zügen hervor-
trat. Die Erinnerung an seine einflussreiche Stellung und an mächtige Ver-
bindungen verlieh seinen Worten ein Gewicht, das um so schwerer in die
Waagschale fiel, je einfacher und bestimmter seine Rede klang, die Rede eines
Mannes, der mit der Zeit des Andern ebenso sparsam umging, wie er es mit der
seinigen gewohnt sein musste. Jeder Satz hatte seinen Inhalt, und der nächste
schloss sich als nothwendige Folge an; nirgend ein Wort zuviel, nie ein über-
flüssiges Verweilen, um etwa im Vorübergehen ein Redeblümchen zu pflücken.
In scharfer Linie und geschlossenen Gliedern ging seine Beweisführung auf ein
Catalog der v. Kadowitz’scheu Autographen-Sammlung. 94