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Radowitz, Joseph Maria von [Oth.]
Verzeichniss der von dem verstorbenen Preussischen General-Lieutenant J. von Radowitz hinterlassenen Autographen-Sammlung (3. Theil): National-Literatur, Künstler, berühmte Frauen und merkwürdige Personen überhaupt, Philanthropen, politische Redner, Geldmänner, Typographen, Verbrecher, die deutsche Bewegung (1848 und 1849), Stammbücher und Nachträge — Berlin: Hübner-Trams, 1864

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https://doi.org/10.11588/diglit.57327#0216

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*746 Die deutsche Bewegung. (Rückblick.)
klar gezeichnetes Ziel hin; und so gemessen und natürlich floss die Sprache
von den Lippen, dass der Zuhörer an die seltenste Begabung glauben, und selbst
der in die Künste des Redners Eingeweihte die merkwürdige Kraft des Ge-
dächtnisses bewundern musste, das einen bis in die kleinsten Einzelheiten aus-
gearbeiteten Vortrag in solcher Weise festzuhalten im Stande war. Der allge-
meinen Aufmerksamkeit folgte bald eine willigere Theilnahme, als man hörte,
wie der Redner die Fehler der alten Zeit bekannte, die Berechtigung Deutsch-
lands unumwunden aussprach, und es nur als einen thatsächlichen, aber nicht
wegzuleugnenden Umstand gelten liess, dass „das Volk“ seine staatlichen Be-
sonderheiten nicht vernichtet wissen wolle, darum müsse die deutsche Verfassung
„der Selbstständigkeit volle Rechnung tragen und über diese dann die Einheit
stellen.“ Die Schwierigkeit der Aufgabe mache sie selbst nicht zu einer un-
löslichen, wenn man nur den guten Willen allseitig hinzubringe. „Dieser gute
Wille“, fuhr er fort, „hat früher oft und nur zu oft gemangelt, wenn es sich
darum handelte, Opfer zu bringen für die Einheit Deutschlands.“ Die künftige
Verfassung werde die Gesammtinteressen durch ein Volkshaus, die berechtigten
Interessen der Einzelstaaten durch ein Staatenhaus zur Geltung bringen müssen:
beiden gegenüber werde die Centralgewalt treten müssen. Die einstweilige
Centralgewalt, die man jetzt schaffe, stehe nur einem jener beiden Körper gegen-
über; den andern könne man nicht aus dem Stegreif bilden, ebenso wenig, als
die Bundesversammlung geeignet sei, ihn vorzustellen. Um so wichtiger sei es,
diese Centralgewalt von den Regierungen allein ernennen zu lassen. Alsdann
liege die Ernennung keineswegs in den Händen der Fürsten, da diese ohne ihre
Minister, diese aber wiederum ohne Üebereinstimmung mit den Kammern nichts
thun könnten; es würden also nicht die Fürsten ernennen, im Gegensätze zum
Volk, sondern die Einzelstaaten im Gegensatz zur Gesammtheit.
Mit diesen Ansichten hatte der Redner eine ausgezeichnete Stellung allen
Parteien gegenüber gewonnen, und keiner der folgenden Redner vermochte
ihren Eindruck zu schwächen. Allgemein wurde anerkannt, dass Radowitz zwar
nicht alle Forderungen der Gegenwart, aber doch das wirklich Mögliche
erfüllt wissen wolle, und eben hierdurch bewies er sich als ein wahrhaft
grosser Staatsmann. Als man nach achttägigen Kämpfen zur Abstimmung ge-
langte, wurde der Antrag:
„Bis zur definitiven Begründung einer RegierungsgevAlt für Deutsch-
land soll eine provisorische Centralgewalt für alle gemeinsamen An-
gelegenheiten der deutschen Nation bestellt werden,“
mit grosser Majorität angenommen.
Ueber die Person des zu erwählenden Reichsverwesers war kein Zweifel;
die Mehrheit der Abgeordneten stimmte in der Sitzung vom 29. Juni für den
Erzherzog Johann von Oestereich, welcher sodann die Reichsverweser-
schaft antrat, die Bildung des Reichsministeriums vollzog, zugleich aber auch
entdeckte, dass der einflussreichste Mann des Parlaments, Heinrich von Gagern,
welcher jetzt in das Reichsministerium eintrat, und an dessen Statt Simson
aus Königsberg Präsident der Versammlung wurde, seit Jahren die ganze
Summe seines Wirkens an das Streben setzte, Preussen an die Spitze eines
einheitlichen Deutschlands zu stellen. Nach Unterdrückung des Frankfurter
Septemberaufstandes, nach erfolgtem Abschluss der Grundrechte des deutschen
Volkes, sowie nach endgültiger Verkündung der Reichsverfassung ward in der
Sitzung vom 28. März 1849 auch wirklich Friedrich Wilhelm IV., König von
Preussen, zum Kaiser von Deutschland erwählt und eine Anzahl Mitglieder
deputirt, den Erwählten zur Annahme der Kaiserkrone einzuladen. Der
König erklärte am 3. April den Abgeordeten, er erkenne in dem Beschluss
der Nationalversammlung die Stimme der Vertreter des deutschen Volkes; dieser
Ruf gebe ihm ein Anrecht, dessen Werth er zu schätzen wisse. Allein er fügte
sofort hinzu, er werde ohne das freie Einverständniss der deutschen Regierungen
eine Entschliessung überhaupt nicht fassen. Diese müssten daher jetzt die Ver-
fassung prüfen, „ob die ihm übertragenen Rechte ihn in den Stand setzen
würden, mit starker Hand, wie ein solcher Beruf es von ihm fordere, die Ge-
schicke Deutschlands zu leiten“.
Zwei Tage später erklärte der preussische Ministerpräsident Graf Branden-
 
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