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Heft 1

Das B uch f ür Al le 3



Der Deutsche ſagte: „Hoffentlich bekommen wir bald Verhält-
niſſe, in denen diese allgemeine Bettelei nicht mehr nötig iſt.
Aber einstweilen sieht es trübe aus." :

Da man nun bei diesem Thema war, begann Lennart eine
Geschichte aus seiner Bekanntschaft zu erzählen: Da war eine
alte reiche Holländerin, eigentlich Ruſſin, aber durch Heirat mit
einem Rotterdamer Großreeder Holländerin geworden. Die hatte
nach dem Tode ihres Mannes einen winzigen Teil des Vermögens
flüſsig gemacht, ſich damit in Berlin in der beſten Gegend, draußen
am Reichskanzlerplatz, ein ſchönes Haus gekauft — der Herr,
wenn er Berliner sei, kenne vielleicht das „Mauriſche Haus"? ~
ein wirklich ſchönes Haus, mit neun oder zehn Zimmern, einer
großen mauriſchen Halle und einem Springbrunnen darin und
ſehr viel Nebengelassen; dort wohne sie nun für ein paar Gul-
den im Monat, und zwar nicht allein, sondern sie habe ſich eine



Bin unverzagt. Ich hab's gewagt“

ganze Familie eingeladen, ruſſiſche Flüchtlinge, einen ehemaligen
Professor aus Dorpat, Mann ihrer verſtorbenen Schwester, mit
ſeiner Tochter. Palm hießen die Leute, und die Tochter heiße
Genia. Genia Palm also. Die Tante übrigens, der das Haus ge-
höre und die in jedem Sinne die Erbtante sei, heiße Pouwels,
Tatjana Pouwels. Ja, was er sagen wolle, die ganze Geschichte
könne keine dreihundert Gulden im Monat kosten, der ganze
Haushalt mit allem Drum und Dran. Palms seien ja durch die
Revolution und weil Jie flüchten mußten, ganz arme Leute gewor-
den, ſie lebten durchaus von der Tante + Verzeihung, er meine
von der Schwägerin des Professors . .. Auch alle Ausgaben für
die wisſsenſchaftliche Arbeit des Profesſſors, der ein bekannter
Chemiker ſei, beſtreite Frau Pouwels; ſie habe ihm im Erdgeschoß

ein wunderbares Laboratorium eingerichtet, dort arbeite er mit
seinem Neffen Norrissen, der ihm zugleich als Assiſtent diene. Ja,
und das alles, wie gesagt, koſte keine dreihundert Gulden im Mo-
nat; so seien die Zeiten. ~ Der Deutſche ſagte: „Ich kenne
Profeſſor Palm.“

„Ah,“ antwortete Lennart ~ und er sagte nichts mehr.

Inzwischen war die Küste nahe herangekommen, die weißen
Kreidefelſen von Stubbenkammer tauchten nicht weit vom Schiff
aus dem Nebel, man unterschied ſchon Wald und Strand. So
war es das Gegebene, daß die Reiſenden ſich um ihr Gepäck
kümmerten und sich zum Aufbruch fertigmachten. Endlich lag
das Schiff am Kai. Die Reviſion der Päſſe und des Gepäcks
nahm einige Zeit in Anspruch, dann stand Lennart auf dem
Bahnhof in Saßnitz. Aber noch war weit und breit kein Zug zu
sehen, und der Stationsbeamte erklärte, daß die Maſchine droben









Nach einem Gemälde von B. Hübler

auf dem Hauptbahnhof einen Defekt gehabt habe, und daß es

gut und gern eine halbe Stunde, wenn nicht länger, dauern

könne, bis der Zug hier am Hafen eintreffe.

: „Verflucht!“ dachte Lennart. „Wann werde ich nach Berlin

ommen? !“

§ grds. hörte er hinter ſich die Stimme deines deutſchen
iſchgenoſssen.
„Jawohl, leider Gottes!“ gab er rückwärts gewandten Kopfes

zur Antwort. „Zch komme zu ſpät nach Berlin ... und es wäre

mir so wichtig gewesen, zeitig am Abend dort einzutreffen."
„Dringende Geschäfte, ſo ſpät am Abend?“ fragte der andere.

„Seien Sie nicht traurig ... wir gehen in den Warteſaal und

trinken einen Schnaps zur Herzſtärkung.“


 
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