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26 D a s B u ch f ü x A ite



Sie wies auf den Sessel an ihrer Seite.

„Keineswegs. Ich warte nur. Monsieur ſchickt mir ein Päckchen
herunter."

nUnd dann? Ñ

„ZU Ihrer Verfügung, mein Herr!“ sagte ſie lachend und zeigte
dabei die ſtarken, blendendweißen Zähne.

„Gut, gut. Wir haben .uns viel zu erzählen, mein Kind.
Trinken wir Tee zusammen? Ich wohne ehr nett in der Brücken-
alleé ,..

„Alo, trinken wir Tee bei dir," ſagte sie auf französisch.

„Monsieur hat sehr abgefärbt. Ich werde mit seinem Fran-
zösſiſch nicht konkurrieren können.“

Sie lachte: „Ich hab' mir's angewöhnt. Ich war ein Jahr in
Paris . . . Aber wenn du waillſt, werde ich es wieder verlernen.“

„Tasja ~ !" sagte er und nahm ihre Hand.

Ein Page kam von der Treppe her durch die Halle und über-
reichte ihr, die Mütze an der Hoſennaht, ein verſchnürtes Päckchen.

„Ah, gut," sagte ſie; und indem Jie ihre Hand in Norrissens
Arm ſchob: „Alſo fahren wir ..."

Eilfertig riß ein Page den Schlag eines Autos auf, und ſie
ließen Jich in die Polſter fallen.

„Vorteil der großen Stadt,“ sagte Norriſſen. „So öffentlich
haben wir in Dorpat nie fahren können." – Und er nahm ihre
beiden Hände.

Sie fuhren durch den Tiergarten, in dem das Laub ſJich ſchon
— früh in dieſem Jahr > herbstlich färbte, fuhren über den
Großen Stern und bogen ins Hanſaviertel ein.

Als die Zimmertür hinter ihnen ins Schloß fiel, breitete Nor-
riſſen die Arme aus und umſchlang Tasja.

„Sage — sage," bat er, „wo warſt dur — Es duntt mich
ewig, ſeit wir uns zuletzt gesehen –~!Ú ;

„Der Reihe nach,“ antwortete ſie und machte Jich los aus seinen
Armen. „Erſt mach’! einen Tee. ~ Übrigens wohnſt du hübſch,"
ſagte sie, indem Jie ſich nach Frauenart raſch im Zimmer umſchaute.

„Nicht wahr?“ kam seine Stimme aus der Ecke, wo er ſich am
Rauchtiſch mit dem Teekessel zu ſchaffen machte. „Ich habe es
ganz gut getroffen. In Stockholm habe ich gelebt wie ein Kellner
in einer Art Dachkammer –~

Er ließ den Kessel ſummen und setzte ſich zu ihr auf das Sofa.

„In der Not frißt der Teufel Fliegen. Ich bin nicht mehr Arzt.
Habe umgesattelt, Chemie studiert und bin nun so eine Art
Assiſtent bei Palm."

„Junger Mann?“ fragte Jie.

„Na, mehr Kind im Hauſſe !“

„Aber Schwiegerſohn noch immer nicht?"

„Sſt! Oh, rühre, rühre nicht daran; es iſt, du weißt, die unver-
narbte Wunde meines Lebens . . .“ lachte er.

„Sage mir, wie hat Jie ſich entwickelt, die andere? Sehr bürger-
lich, nicht wahr? Sie hatte die Anlagen dazu.“

Er war aufgeſtanden, um den Tee herbeizuholen, weil das
heiße Wasser brodelte.

„Sie ist schöner denn je . . ." sagte er, und es war, als ſpräche
er zu ſich ſelbſt. : ;

„Aber arm, arm wie eine Kirchenmaus," hörte er vom Sofa
her ihre Stimme. „Denn die Palms haben doch nicht gewußt,
wie man alles in Gold verwandelt, was man berührt." ;

„Ja, sie haben alles verloren. Aber zum Glück iſt dann die
Tante aufgetaucht + Frau Pouwels = du erinnerst dich ihrer
vielleicht aus Dorpat, ſie war einmal einige Monate da, und ich
habe sie ein bißchen von einem kleinen Leiden kuriert. Seitdem
liebt ſie mich. Und davon lebe ich. Sie iſt ſchwerreich und uralt,
und Genia wird Jie beerben."

„Genia! ... Was nützt es dir?

Er ſchloß sie in seine Arme.

„Was frag' ich danach? Du biſt ja da !“

So saßen Jie lange in der langſam hereinbrechenden Dämme-
rung und sprachen von einst, von der Zeit, da Jie ſich in Dorpat
kennengelernt.

„Herrgott, ' ſagte Norriſſen plötzlich. „Wieviel Uhr mag es
sein? Ich muß um acht bei Palms sein . . .)

Heft 2

Es war Jieben Uhr.

„So wirst du ein bißchen zu ſpät kommen."

Sie lief im Zimmer hin und her, ſtand vor dem Spiegel, warf
Norriſſen im Glase einen Blick zu und wühlte unter den Sachen
auf dem Toilettentiſch.

„D bitte, hole meine Puderbüchſe ...
Täfchchen . . .“

Als er zurückkam, hielt Fſie, mit einem Gemiſch von Neugier
u Ekel im Gesicht, zwiſchen den Fingern eine kleine Morphium-
pritze.

ſie iſt draußen im

„Iſt es noch dieſelbe? Die von der Karin‘? Aus jener Nacht?"

Er u gu ſie ihr, beinahe heftig, aus der Hand und ſchloß sie in
die Schublade.

„Jetzt brauche ich Jie ſelber,“ sagte er, und seine Stimme war
verändert.

„Aber mit vernünftigen Doſen ~ lachte sie.

Er legte ihr die Hand auf den Mund.

„Schweig, ſchweig ~ es war ja doch vergebens."

„Wann ehe ich dich wieder?" fragte er, als ſie draußen waren
und er sie noch einmal in die Arme ſchloh.

„Morgen?"

„Immer, immer!

Sie gingen zuſammen, und er brachte ſie im Auto nach Hauſe.

Stunde d er Erinnerung

Genia war den ganzen Nachmittag beschäftigt, alles für den
Abend vorzubereiten. Nun saß sie, um die Dämmerstunde, in
ihrem Zimmer am Fenſter, ſah träumend hinaus in die unbeweg-
lich-ernſten Kieferngruppen des nahen Grunewalds, die ſchwarz
vor dem blaſſen Abendhimmel standen, und hielt die Hände im
Schoß. Sie liebte diese Stunde des verdämmernden Tages, der
verglühenden Sonne und der heraufziehenden Gestirne. Es war
ſtill im Hauſe. Tante Tatjana hatte sich zurückgezogen, und der
Vater war drunten im Laboratorium. Diesſe Stunde gehörte ihr.
Sie hatte das Zimmer dunkel gelassen und ſich in den bequemen
Sessel gekuſchelt, der vor ihrem Schreibtiſch ſtand. Durch die
Schleier der Dämmerung ſah sie das Bild der Mutter, ſie nahm
es und betrachtete es lange. Daß du lebtesſt! dachte Jie, und Tie
dachte, wie anders dann ihr Leben gewesen wäre in den letzten

beiden Jahren. Sie dachte + wieder, immer wieder ~ an jene

furchtbare Nacht auf dem Schiff, in der Eisſchollen treibenden

. See, als die Mutter, hingeſtreckt in einem ſchmutzigen Loch von

Kabine, lange ſchon bewußtlos, ihren lezten Atemzug getan. Nur
ſie und der Vater und Leo Norriſſen waren an ihrem Bette
gewesen + niemals vergaß ſie das: wie der Vater dageſtanden
hatte neben der Toten, den weißen Kopf erhoben, die Augen voll
von einem ſeheriſchen Lichte. Aber Norriſſen > der hatte auf
dem Bettrande gekauert und unablässig in das Geſicht der Ster-
benden gestarrt, mit einer Miene, die ſchauerlich gewesen war . . .

Genia fuhr ſich mit der Hand über die Stirne, als müſſe Jie
alle diese Bilder wegscheuchen, die immer wieder kamen.

Elend, Elend! Was hält der Menſch aus! Die Schreckenszeit in
Dorpat, unter dem blutigen Terror, dieſe ſtändige, faſt zur Ge-
wohnheit gewordene Angst um das nackte Leben ~ dann der
jähe, überhaſtete Aufbruch, bei dem kaum ein zweites Hemd mit-
genommen werden konnte; das Schiff, bis unter das Deck voll-
gepfropft mit Flüchtlingen, durch die das kleine, tapfere Fräulein
von Knieriem mit seiner weißen Armbinde und dem roten Kreuz
darauf wie eine Heilige ſchritt; die lezte Inſpektion durch die
roten Gardisſten, bei der man noch einmal um Leben und Freiheit
gebangt hatte; der Jammer der Frauen und kleinen Kinder, als
die Seuche bald diesen, bald jenen mit knöcherner Hand ergriff;
die vier furchtbaren Tage und noch furchtbareren Nächte, in denen
das kleine, ſchwache Schiff ſich von Reval durch die vereiſende
Ostsee kämpfte; + und dann war da wieder jene Nacht und die
Erinnerung an jene fahle, zuſammengefallene Miene, die ihr
Norrissen für immer unheimlich gemacht hatte.

Ach, ich tue ihm unrecht, dachte Genia. Hat er nicht an allen
Kranken auf dem Schiff und auch an Mutter wie ein Engel ge _
 
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