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Heft 6

W: recht modern sein will, der ſchilt auf das Gedächtnis und auf das
sogenannte gedächtnismäßige Lernen und weiſt darauf hin, daß Ge-
dächtnis und Intelligenz miteinander wenig oder nichts zu ſchaffen haben.
Denn es habe Idioten gegeben, die Zahlenreihen ſpielend leicht ſich einpräg-
ten, die einen ganzen Kalender auswendig wußten und für jeden Tag im
Jahr den Wochentag, auf den er fiel, anzugeben vermochten, die eine große
Buchseite, die ſie ein paarmal langsam durchlaſen, auswendig herunterſagen
oder vielmehr herunterbuchſtabieren konnten, und zwar nicht nur deutſchen
Text, sondern auch einen ihnen völlig unverständlichen lateiniſchen. Und
wiederum habe es sehr bedeutende Köpfe gegeben, die nicht imſtande
waren, ein mäßig langes Gedicht wörtlich zu memorieren. Auf dieſe Weise
wird zwiſchen Gedächtnis und Intelligenz, zwiſchen Lernen und Denken
eine Art Feindſchaft feſtgeſtellt und von der Vernichtung der Intelligenz
durch Gedächtnisarbeit geredet. ; :
Machen wir ſselbſt einmal ein Gedankenexperiment und verſuchen wir
uns vorzuſtellen, wie es um einen Menſchen ſtünde, der kein Gedächtnis
besäße, dem jede Fähigkeit abginge, von einem Erlebnis eine dauernde
Nachwirkung, gleichviel welcher Art, zu behalten. Er besäße + um mit dem
Auffälligſten zu beginnen ~ keine Sprache. Denn wir erwerben uns eine
Sprache nur dadurch, daß wir zu einem wahrgenommenen oder gezeigten
Gegenſtand uns ein beſtimmtes Wort, das man uns dazu vorsſagt, merken,
anders ausgedrückt, daß ſich beide Bewußtſeinsvorgänge, oder genauer
geſprochen: die von ihnen in der
Seele zurückbleibenden Spuren
miteinanderverbinden oder aſso-
ziieren, ſo daß, wenn wir ſpäter-
hin das Wort wieder hören, uns
auch das Vorſtellungsbild jenes
Gegenſtandes wieder in das Be-
wußtſein tritt, und daß umge-
kehrt, wenn jener oder ein glei-
cher Gegenstand uns wieder be-
gegnet oder wir an ihn denken,
ihn uns vorſtellen, jenes Wort
uns wieder einzufallen pflegt.
Das iſtnatürlich eineGedächtnis-
leiſtung. Auf dieſer Möglichkeit,
zwischen mehreren Erlebnissen
oder Eindrücken, wie man etwas
ungenau sagt, einen dauernden
Zusſammenhanghenrzulſtellen, be-
ruht alles und jedes Lernen, mag
es ſich um das Einprägen von
YWeorten handeln oder um das
Erwerben von Anschauungen,
um Ansſammeln von Erfahrun-
gen, Aufsſpeichern von Kennt-
niſſen, Gewinnung von Fertig-
keitenund Aneignungbeſtimmter
Arten des Verhaltens und Han-
delns, jede menſchliche Erzie-
hung, auch jede Dreſſue..
Das Wiedervorſtellen, das
Wiedervergegenwärtigen eines
einzelnen Gegenstandes oder Er-
lebniſſes in Form einesbloß inne-
ren Bildes, während der Gegen-
ſtand ſelbſt uns in Wirklichkeit
nicht mehr gegenübersſteht und
das Erlebnis längst vorüber iſt,
iſt nur möglich dank unserer
Fähigkeit, von jedem einzelnen
Erlebnis, jeder einzelnen Wahr-
nehmung eine dauernde Nach-
wirkung, eine Spur, ein Erinne-
rungsbild zu bewahren, und fer-
ner, weil eine Möglichkeit besteht,
dieſes Erlebnis, dieſen Gegen-
ſtand uns wiedervorzuſtellenund
ihn oft auf lange Zeit hinaus,
manchmal fürs ganze Leben, zu
behalten. Auf dieser Fähigkeit,
unsere früheren Erlebnisse für

Der Denter

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Der Menſch ohne Oedächtnis / Von Dr. M. Offner



Nach einer Plastik von Anna Spuler-Krebs
Neue Photographisſche Gesellſchaft, Berlin-Steglitz z

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ſich wie in ihrem ursprünglichen Zuſammenhang wahrheitsgetreu wieder
vorzuſtellen, beruht alles Erinnern. Wir ſind aber auch imſtande, diese
Zusammenhänge zu lockern, die einzelnen größeren und kleineren Beſtand-
teile in neue Ordnung zu bringen. Darauf beruht alles Phantasieren,
alles Träumen, alles künſtleriſche Schaffen und genießende Nachſchaffen.
Für dieſes Neubilden liefert nur das Gedächtnis den Bauſtoff.

Schon das einfache Wiedererkennen ſchließt eine Leiſtung des Gedächt-
nisses in sich. Besäßen wir nicht die Fähigkeit, von einem Erlebnis eine
dauernde Spur in uns zu bewahren, dann müßte jeder Gegenſtand, jeder
Menſch, jede Landſchaft uns immer wieder neu und unbekannt erſcheinen,
wenn wir sie auch ſchon hundertmal gesehen hätten.

Ein Menſch also, der gar kein Gedächtnis beſäße, vermöchte nie-
mand und nichts zu erkennen, vermöchte nichts zu lernen, nichts ſich vor-
zustellen, an nichts ſich zu erinnern. Er könnte keine Sprache erwerben
und keine Gewohnheiten und Fertigkeiten. Er wäre unfähig jeder Ab-
richtung und Erziehung, hätte nicht Phantasie noch Erfindungsgabe. Er
würde keine Furcht, keine Angst, keine Sorge und keine Reue kennen, aber
es gäbe für ihn auch keine Erwartung, keine Hoffnung, keine Vorfreude
und keine Nachfreude, kein Glück der Erinnerung. Kurz, er wäre wie ein
Kind von zwei bis drei Monaten oder wie jene völlig verblödeten Ge-
ſchöpfe, die wir in Irrenansſtalten und Idiotenheimen ſehen können, die
alles, was Jie je an Eindrücken, Erfahrungen, anerzogenen Gewohnheiten
besaßen, verloren haben, die nur

werden und noch unter den Tie-
ren ſtehen. Ein kleines Kind in
den erſten Monaten, ein Erwach-
sener im Stadium völliger gei-
ſtiger Auflöſung, das sind die
beiden Zustände, die den Men-

zeigen. ; ;
Wir haben nun gute Gründe
anzunehmen, daß unſere see-
liſchen Vorgänge, unsere Be-
wußtſeinserlebniſſe, ſtets von
physikaliſch-chemiſchen Vorgän-
gen im Körper, besonders im
Großhirn, begleitet ſind. Und es
iſt auch feſtgeſtellt, daß Bewußt-
seinsvorgänge bestimmter Art
verbunden ſind mit Vorgängen
an ganz beſtimmten Stellen des
Gehirns, oder vorsichtiger aus-
gedrückt, daß beſtimmte Bewußt-
ſeinserlebniſſe nur dann ein-
treten, wenn ganz bestimmte
Stellen (Felder, Bezirke) der
Großhirnoberfläche (Rinde) heil
ſind. Dennbei Beschädigung oder
Erkrankung beſtimmter Rinden-
bezirke pflegen ganz bestimmte
Arten von Bewußtseinserlebnis-
sen auszufallen. Iſt die Ober-
fläche des Hinterhauptlappens in
weitem Umfange zerſtört, dann
nimmt der Patient das ihm ge-
zeigte Objekt, obwohl sein Auge,
ſein äußeres Sinnesorgan des
Sehens, unversehrt iſt, nicht
mehr wahr. Er iſt ſeelenblind,
erkennt nichts und kann auch, was
dem augenblind Gewordenen
noch möglich iſt, früher Gesehe-
nes ſich nicht mehr vorſtellen,
mag er es ehedem noch ſo oft
gesehen und vor der Erkrankung
ein noch ſo klares Erinnerungs-
bild davon in ſich getragen haben.
Man nennt dieses wichtige Rin-
denfeld optiſches Zentrum und
vermutet, daß hier ~ wie, kann
man ſich noch nicht vorſtellen ~

von einigen Trieben beherrſht

ſchen ohne jegliches Gedächtnis
 
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