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Heft 7

die Sehnſucht nach Erkenntnis . . . die Sehnſucht nach Rache für
den Tod der Geliebten: Rache + ach, an wem? An irgend einem,
den er nicht kannte, einem, den es vielleicht gar nicht gab . . .

Immer und immer wieder griff er nach Creydts Brief und las
ihn vom Datum bis zur Untersſchrift. Immer wieder machte
ihn dieſer Brief irre, wenn er verzichten und ſich zufriedengeben
wollte. Mord: welche Diagnoſe! Mord: war es denn möglich,
daß jemand mit dem Gedanken umgehen konnte, dies liebliche,
unſchuldige Mädchen zu morden? . . . Auf sſo grauenvolle Weise
zu morden? Das war nicht möglich, nein, das war vollkommen
unmöglich. ;

Er zögerte wochenlang, ehe er die Antwort auf den Brief des
Freundes ſchrieb und absſandte.

Umgehend kam die Erwiderung, in Creydts klarer, feſter Schrift.

Nachdem er von denneuen J
Tatſachen Kenntnis genom-
men = ſchrieb Creydt , er-
gäben sich nach ſeiner Ansicht
zwei Erklärungen.
Entweder: es handle ſich
um einen Einbruchsdiebſtahl,
bei dem es vielleicht auf die
im Haus befindlichen Werte,
vielleicht aber auch unmittel-
bar auf die Erfindung des Pro-
feſſors abgesehen gewesen sein
könne; in dieſem Fall hätten
die Diebe die verſperrte Tür
des Laboratoriums gewaltſam
erbrochen, nicht ahnend, daß
ihnen der erſte hereinfallende
Lichtſtrahl statt der erhofften
Beute das eigene Verderben
bringenwerde. Auf dieſe Weise
erkläre ſich vielleicht auch das
ſpurloſe Verſchwinden des
Dieners Lerche, der von ſei-
nem im Erdgeſchoß gelegenen
Zimmer aus etwa die Ein-
brecher bei ihrer Arbeit gehört
hätte und zur Abwehr herbei-
geeilt wäre. Oder aber: Mord-
anschlag auf Genia, um es
noch einmal zu sagen. Gegen
die erſte Möglichkeit ſpreche
zweierlei: einmal die Stunde
der Tat > denn Einbrüche
pflege man nicht bei Sonnen-
aufgang zu unternehmen ,
und zweitens der Umstand,
daß das Bett des Dieners un-
berührt gewesen sei. Gegen
die zweite Erklärungſpreche –~
nichts. Das war, in kurzen
Worten wiedergegeben, die
ſcharfſinnige Zergliederung,
die Crendts Brief enthielt.

Abermals ſah sich Lennart
in einen Strudel von wider-
ſtreitenden Empfindungen ge-
riſſen. Mächtig erhob ſJich in
ihm der Drang, der Sache
nachzuforſchen. Er ſette zum
cdESprunganundrannteineiner
ſtarkenGefühlsaufwallungalle
Hemmungen über den Hau-
fen. Forſchen . .. die Wahr-
heit finden . .. Rache nehmen
für Genia ...! Ach, aber wie
war das möglich, ohne den

Da s. B u < für Alle

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I
alten Mann draußen im Mauriſchen Hauſe zu quälen?! Er ging
lang mit sich zu Rate; das Ergebnis war, daß er beſchloß, auf eigene
Fauſt zu handeln. Was nützte es, zu ſinnen und zu grübeln? Die
Tat allein war das Befreiende! Und er wußte es nur zu gut,
niemals würde dies Rätsel ihm Ruhe lassen.

Er fuhr, ſobald er die Hände einigermaßen frei hatte, aufs
Polizeipräsidium am Alexanderplatz, fragte ſich in dem großen,
roten, öden Haus zurecht und erbat ich, als er endlich in dem
gesuchten Amtszimmer stand, Auskunſt, ob seit der Nacht vom
dritten zum vierten Juni des vorigen Jahres irgendwelche Per-
sonen vermißt worden ſeien, über deren Verbleib ſich nichts feſt-
ſtellen laſſe. Die Antwort des Beamten lautete verneinend.

Er dankte und ging. In der Untergrundbahn bedachte er, daß
damit Crendts Hypothese in ein Nichts zuſammenfiel, es ſei denn,



Kunstverlag Stiefbold & Co., Berlin W 35

Rhapsodie / Nach einem Gemälde von M. Schaefer
 
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