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zum Lande der Gärten und Sonne er-

Heft 24

Da s B u < für All e









Das deutſche Leid in Südtirol / Von Dr. Herbert Stisſter

„mînes herzen tiefe wunde,
j diu muoz iemer offen ſten!“

. Walther von der Vogelweide

W: die Brennersſtraſßze die Paßhöhe erreicht und ſich anſchickt, eben wei-

terzulaufen, ſperrt der öſterreichiſche Schlagbaum unvermittelt den

Weg. Etwa hundert Meter weiter ſüdlich, jenſeits einer Zone Niemandland,

riegelt abermals ein Schlagbaum die Straße ab. Daneben ein nagelneuer,

großer, weißer Grenzſtein und eine Fahnenſtange, von der ſtändig die
Trikolore weht: rot-weiß-grün.

Die Station Brenner mit ihren Anlagen, der Ort Jelbſt mit ſeiner
braven, wettergrauen Kirche, den breitgiebeligen Bauernhäuſern liegen
ſchon alle jenseits. Und inmitten der Stille dieſer großen Wälder, des
weiten, ernſten Zuges der Brennerberge
hat ſich + freilich nur auf den Bahn-
hof, und was drum und dran hängt,
beschränkt — ein Treiben breitgemacht,
das auch dem flüchtigen D-Zügler Er-
ſtaunen oder Lächeln oder Schmerz
abringen müßte: da drängt Jſich neben
den Pomp südländiſcher Uniformen das
Feldgrün ſstahlhelmbewehrter Krieger,
man hört von passaporti reden, gelati
und krutta ausrufen, und nebenfriſchen
Feigen und ersten Kirſchen ſtehen die
bauchigen, ſtrohumhüllten Chiantifla-
ſchen mit den dünnen Häſlsen.

Dann zieht die Maschine an, und der
Zug fährt über die Paßhöhe, am Bren-
nerbad vorüber, um bald an der Jqüd-
lichen Brennerrampe hinabzudonnern.

Und da iſt es, als wäre nichts ver-
ändert. Da liegen die ſtattlichen Höfe
breitſtirnig an den Lehnen zu beiden
Seiten, die alten Bergwasser des jungen
Eisack ſtürzen schäumend zu Tal, dort
ſteht ein Wegkreuz, da einſpitztürmiges,
hier ein Kirchlein mit Zwiebelturm hoch
oben irgendwo oder tief unten eine
Mühle im Wiesengrund. Die altenOrte,
die alten Berge! Nur die Stationen
zeigen neue, unbekannte Namen, helles
Kauderwelſch, und kennte man nicht
die alten, lieben Neſter, man würde
meinen in Eſperantien zu reiſen, dieſen
Namen ohne Heimat und Wurzeln nach
zu ſchließen. Und neben der Stillung
alten Heimwehs, der unausrottbaren
Wiedersſehensfreude mit dem nahen
eigenen Süden, der goldenen Pforte

neut jeder Bahnhof den Schmerz, das



Clin Abschied in Tirol 1809

Nach einem Gemälde von Egger-:Lienz

Wissen um das, was gesſchah. Oh, daß jeder der Tauſende, die im ver-
gangenen Jahr dem ewigen Lande entgegengefahren waren, dieſe paar
Stunden Bahnfahrt mit offenen Augen und offenem Herzen zugebracht
hätte ! Doch viele, allzu viele lagen ſchon im Schatten breitdachiger Pinien,
im Duſel schwarzen Weins, glühender Orangen, ſchmelzender Sprache,
da Jie noch ſchwerblütige Heimat durchfuhren, noch klobige Tiroler Bauern
neben ihnen saßen, ſchweigſam und ernſt, verratenen Helden gleich. Doch
da ſprach man schon von Neapel und Sorrent und ſchnappte gierig nach
jedem s) und buon giorno. ;

Die Zeiten ſind vorüber. Man weiß nun auch im großen deutſchen Reich,
worum es geht, worum es ging. Die Stimme des Herrn im Süden war
allzu gellend und brutal, als daß sie nicht auch dem Laxen und Spötter

. ins Mark gefahren wäre. Und bei dem
Gedanken, beim Bewußtwerden des
Geschehenen, Verlorenen erfaßt wohl
jeden, der dieses Land einmal ſah, die
Sehnsucht, da irgendwie mit zu lieben
und mit zu leiden, der Wille, mit zu
helfen, damit Recht Recht werde. Und
die wenigen Eigenbrötler und Kalt-
ſchnauzigen, sie haben wohl nie etwa
von der Höhe der Mendel hinabgeblickt
ins rebenumgürtete Etſchland, die wei-
ten sonnigen Becken mit ihren Schlöſ-
sern und Burgen, hinübergeſehen zum
Reich der weichſten Almen und flam-
mendſten Felſen, den Roſengärten der
Alpen. Sie sind wohl nie durch welt-
ferne Täler gewandert, an deren Steil-
hängen Höfe liegen, deren arme Äcker
die Frucht jahrhundertelanger, blutiger
Arbeit zäher deutſcher Bauern ſind,
haben nie den Zauber dieſer Südtiroler
Städtchenmit ihrer brunnenkühlen Lau-
benheimlichkeit der erkerfrohen Krumm-
gäßchengefühlt, die, keine paar Stunden
von rein italieniſchem Sprachgebiete
entfernt, die ganze Herbe und Innig-
keit Dürerſchen Geistes bergen, umſpült
vom Duft reifenden Südens, verklärt
vom Licht blauender Firne.

Wohl wissen auch wir, daß es weit-
aus größere, volksreichere, wirtſchaftlich
wertvollere Landstriche deutſchen Leides
gibt, doch wissen wir auch, daß keiner
unter ihnen an Schönheit der Erde,
Alter und Wert der Kultur, Freiheits-
ſinn und Glaubensſtärke der Menſchen
diesem deutschen Südtirol gleichkommt,
wissen, daß keine Fremdherrschaft ſo
drückend auf irgend einem verlorenen


 
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