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D a s B u c für Alle
Heſt 24
Wenn der
Nach einer
Frühling ufnahme
auf die von
Berge W Walther
ſtetgt ... M. Flaig
alther Harlan hat einmal die Entwicklung eines Menſchen mit einer
Wendeltreppe verglichen: im Kreiſe gehend, kehrt er ſcheinbar an
seinen Ausgangspuntt zurück; aber nicht an dieſem landet er, ſondern an
einem höher gelegenen Ort, und die erhöhte Lage läßt ihn erkennen, daß
in seinem Schreiten dennoch Aufstieg war. Ähnliches begibt sich mit der
Menſchheit überhaupt bei jenem Prozeß, den man mit dem nicht reſtlos
verdeutſchbaren Ausdruck Zivilisation bezeichnet. Schließlich führt auch
diese, die zunächſt dem Naturzuſtande entfremdet, zu Gewohnheiten zurück,
die dem Naturmenſchen selbſtverſtändlich und allein vorſtellbar ſind. Aber
was der Naturmenſch in ſeiner Einfalt gedankenlos als das ſchlechthin Ge-
gebene und Vorhandene hinnimmt, macht ich der Kulturmenſch + durch
Entbehrung belehrt + bewußt zu eigen: er erwirbt es, um es zu besitzen.
Ö Ein Jolcher Fall trat ein, als die Erkenntnis geſundheitſpendender Wir-
kungen von Freiluftleben und -erziehung ſich Bahn brach. Sie iſt gewisser-
maßen die deutſche Wiederentdeckung einer Wahrheit, deren praettiſche
Nutzanwendung der neuzeitlichen Menschheit aus der Geschichte des Alter-
tums durchaus bekannt war. Konnte man doch in jedem Gymnasium, injeder
höheren Töchterſchule erfahren, daß in Sparta Jünglinge und Jungfrauen
vereintdenöffentlichenfeierlichen Aufzügen beiwohnten, daß sie gemeinſam
Tänze und Wett9piele aufführten, um ihre Körper zu ſtählen und zu kräf-
tigen. Man wußte es, war aber weit davon entfernt, ſich den geſundheit-
lichen Kern solchen Wissens zunutze zu machen, bis > ſeltſam genug und
dennoch mit einer eigentümlichen Folgerichtigkeit die aus den Unter-
laſſungsſünden der Gesundheitspflege herrührenden Erscheinungen zu tat-
krästiger Abwehr der ſchlimmen Menſchheitsgeißel Tuberkuloſe drängten
und die Erfahrungen der Heilſtätten Anregung gaben, dort erprobte Me-
thoden körperlicher Abhärtung durch Freiluftübungen, -ſpiele und -arbeit
auch bei gesunden Leuten, ganz besonders aber bei der heranwachſenden
Jugend anzuwenden. So entstand in den erſten Jahren dieſes Jahrhunderts
die Charlottenburger Waldſchule, die erſte Freiluftſchule überhaupt, der
zunächſt eine ſolche des Londoner Grafschaftsrates zu Boſtall Wood folgte.
Gerade in England und Amerika hat der Gedankte beſonders fruchtbaren
Bodengefunden und zur Gründung vieler ähnlicher Anstalten geführt. Der
Unterricht wird hier soweit als irgend möglich dem Aufenthalt im Freien
angepaßt und durch prakttiſche Anleitung zu Reinlichkeit und Körperpflege
ergänzt. Da die Kinder sich den ganzen Tag hindurch in der Schule auf-
halten, iſt es möglich, für die nötige Unterbrechung der Lehrſtunden durch
Ruhepausen und Atemübungen zu sorgen, die Beköſtigung den Anforde-
rungen der Ernährungslehre anzupassen, für gründliche tägliche Reinigung
und die vorgesſchriebenen Bäder zu sorgen. Durch Rückwirkung solcher Ge-
wöhnung der Jugend auf das Elternhaus verbindet ſich mit dem unmittel-
baren Zweck, ſchwächliche und erholungsbedürſtige Kinder unter beſſere
Freilufterziehung / von Wolf Marwein
Lebensbedingungen zu ſtellen, derjenige einer volkserzieheriſchen Werbung
für bessere, gesundheitfördernde Wohn- und Lebenssitten. Das iſt außer-
ordentlich wichtig und allerorten angebracht in Stadt und Land.
Man Jollte eigentlich annehmen, daß Menſchen, die gewöhnt Jind, Jich
in freier Luft zu bewegen und ihren Körper mit dieser ſtändig in Berührung
zu bringen, von Natur aus besonderen Widerwillen gegen verdorbene
Zimmerluſt hegen müssen. Indessen lehrt die Erfahrung, daß das Bewußt-
sein für deren ſchädliche Wirkung in ihnen erſt geweckt, die Segnung des
Freiluftaufenthalts erfahren und erlebt ſein muß. Man halte doch einmal
auf dem Lande Umſchau; in jeder Bauernſtube kann man Jich überzeugen,
daß der in freier Luft arbeitende Landbewohner keineswegs empfindlich
gegen den üblen Geruch ungelüfteter menſchlicher Wohnräume iſt. Wahr-
ſcheinlich nimmt er dieſen genau so ruhig als etwas Unabänderliches und
Naturgegebenes hin wie den köſtlichen Sauerſtoffgehalt der Atmosphäre,
die ihn tagsüber umgibt, nach der ſich der Städter das ganze Arbeitsjahr
hindurch vergeblich ſehnt.
Dieſe Sehnsucht kommt aus dem Selbſterhaltungstrieb, Jie iſt die
Stimme der Natur, die den Menschen im Unterbewußtsein ſpüren läßt,
was ihm not tut. Die menschliche Haut nämlich, die nicht nur Hülle iſt, wie
mancher glaubt, sondern ein äußerſt ſinnreich ausgeſtattetes Gefüge mit
lebenswichtigen Befugnissen, bedarf der besonderen Pflege, vor allem der
Zuführung von friſcher Luft, am liebſten unter Einwirkung des Sonnen-
lichtes. Daher gönne man ihr regelmäßig ein Luftbad, das im Notfall bei
offenem Fenſter in verſchloſſener Stube genommen werden kann, beſſer
freilich noch auf einem Balkon, der allerdings vor den Blicken neugieriger
Zuſchauer gesichert ſein muß. Um die empfindliche Haut allmählich an die
Luft zu gewöhnen, sollten Anfänger zunächſt nicht die ganze Bekleidung
fortlassen, ſondern das Luftbad in leichtem Hemd nehmen. Später kann
man auch dieſes entbehren.
Dem Neuling iſt einzuſchärfen, daß er ſich nicht gleich allzu ſtarker Be-
sonnung aussetzen darf, die besonders der Haut des Stadtbewohners nicht
zuträglich iſt. Ein Schutz des Kopfes iſt dringend zu empfehlen; auch ſol
man ſich lieber Bewegung machen als ſtill liegen bleiben; in erhittem Zu-
ſtande iſt Zugluft zu vermeiden. Kurzum, man ſoll nichts übertreiben und
nicht die Wetterfesſtigkeit und Abhärtung bereits als erreicht voraussetzen,
die doch erſt erworben werden ſoll. Es gibt ein ſehr einfaches Mittel der
Selbstbeobachtung; war das Sonnenbad vorschriftsmäßig durchgeführt,
so muß; ſich ein Wohlgefühl danach einſtellen. Die erſten Zeichen von Un-
behagen, Flimmern vor den Augen oder Herzklopfen ſollten Anlaß zur
Unterbrechung oder Abkürzung geben; töricht iſt das „Durchhaltenwollen“"
bestimmter Zeitabschnitte. Allmählich wird man die Sonnenbaddauer
ſteigern können, die anfangs nur zehn bis fünfzehn Minuten währen ſoll,
D a s B u c für Alle
Heſt 24
Wenn der
Nach einer
Frühling ufnahme
auf die von
Berge W Walther
ſtetgt ... M. Flaig
alther Harlan hat einmal die Entwicklung eines Menſchen mit einer
Wendeltreppe verglichen: im Kreiſe gehend, kehrt er ſcheinbar an
seinen Ausgangspuntt zurück; aber nicht an dieſem landet er, ſondern an
einem höher gelegenen Ort, und die erhöhte Lage läßt ihn erkennen, daß
in seinem Schreiten dennoch Aufstieg war. Ähnliches begibt sich mit der
Menſchheit überhaupt bei jenem Prozeß, den man mit dem nicht reſtlos
verdeutſchbaren Ausdruck Zivilisation bezeichnet. Schließlich führt auch
diese, die zunächſt dem Naturzuſtande entfremdet, zu Gewohnheiten zurück,
die dem Naturmenſchen selbſtverſtändlich und allein vorſtellbar ſind. Aber
was der Naturmenſch in ſeiner Einfalt gedankenlos als das ſchlechthin Ge-
gebene und Vorhandene hinnimmt, macht ich der Kulturmenſch + durch
Entbehrung belehrt + bewußt zu eigen: er erwirbt es, um es zu besitzen.
Ö Ein Jolcher Fall trat ein, als die Erkenntnis geſundheitſpendender Wir-
kungen von Freiluftleben und -erziehung ſich Bahn brach. Sie iſt gewisser-
maßen die deutſche Wiederentdeckung einer Wahrheit, deren praettiſche
Nutzanwendung der neuzeitlichen Menschheit aus der Geschichte des Alter-
tums durchaus bekannt war. Konnte man doch in jedem Gymnasium, injeder
höheren Töchterſchule erfahren, daß in Sparta Jünglinge und Jungfrauen
vereintdenöffentlichenfeierlichen Aufzügen beiwohnten, daß sie gemeinſam
Tänze und Wett9piele aufführten, um ihre Körper zu ſtählen und zu kräf-
tigen. Man wußte es, war aber weit davon entfernt, ſich den geſundheit-
lichen Kern solchen Wissens zunutze zu machen, bis > ſeltſam genug und
dennoch mit einer eigentümlichen Folgerichtigkeit die aus den Unter-
laſſungsſünden der Gesundheitspflege herrührenden Erscheinungen zu tat-
krästiger Abwehr der ſchlimmen Menſchheitsgeißel Tuberkuloſe drängten
und die Erfahrungen der Heilſtätten Anregung gaben, dort erprobte Me-
thoden körperlicher Abhärtung durch Freiluftübungen, -ſpiele und -arbeit
auch bei gesunden Leuten, ganz besonders aber bei der heranwachſenden
Jugend anzuwenden. So entstand in den erſten Jahren dieſes Jahrhunderts
die Charlottenburger Waldſchule, die erſte Freiluftſchule überhaupt, der
zunächſt eine ſolche des Londoner Grafschaftsrates zu Boſtall Wood folgte.
Gerade in England und Amerika hat der Gedankte beſonders fruchtbaren
Bodengefunden und zur Gründung vieler ähnlicher Anstalten geführt. Der
Unterricht wird hier soweit als irgend möglich dem Aufenthalt im Freien
angepaßt und durch prakttiſche Anleitung zu Reinlichkeit und Körperpflege
ergänzt. Da die Kinder sich den ganzen Tag hindurch in der Schule auf-
halten, iſt es möglich, für die nötige Unterbrechung der Lehrſtunden durch
Ruhepausen und Atemübungen zu sorgen, die Beköſtigung den Anforde-
rungen der Ernährungslehre anzupassen, für gründliche tägliche Reinigung
und die vorgesſchriebenen Bäder zu sorgen. Durch Rückwirkung solcher Ge-
wöhnung der Jugend auf das Elternhaus verbindet ſich mit dem unmittel-
baren Zweck, ſchwächliche und erholungsbedürſtige Kinder unter beſſere
Freilufterziehung / von Wolf Marwein
Lebensbedingungen zu ſtellen, derjenige einer volkserzieheriſchen Werbung
für bessere, gesundheitfördernde Wohn- und Lebenssitten. Das iſt außer-
ordentlich wichtig und allerorten angebracht in Stadt und Land.
Man Jollte eigentlich annehmen, daß Menſchen, die gewöhnt Jind, Jich
in freier Luft zu bewegen und ihren Körper mit dieser ſtändig in Berührung
zu bringen, von Natur aus besonderen Widerwillen gegen verdorbene
Zimmerluſt hegen müssen. Indessen lehrt die Erfahrung, daß das Bewußt-
sein für deren ſchädliche Wirkung in ihnen erſt geweckt, die Segnung des
Freiluftaufenthalts erfahren und erlebt ſein muß. Man halte doch einmal
auf dem Lande Umſchau; in jeder Bauernſtube kann man Jich überzeugen,
daß der in freier Luft arbeitende Landbewohner keineswegs empfindlich
gegen den üblen Geruch ungelüfteter menſchlicher Wohnräume iſt. Wahr-
ſcheinlich nimmt er dieſen genau so ruhig als etwas Unabänderliches und
Naturgegebenes hin wie den köſtlichen Sauerſtoffgehalt der Atmosphäre,
die ihn tagsüber umgibt, nach der ſich der Städter das ganze Arbeitsjahr
hindurch vergeblich ſehnt.
Dieſe Sehnsucht kommt aus dem Selbſterhaltungstrieb, Jie iſt die
Stimme der Natur, die den Menschen im Unterbewußtsein ſpüren läßt,
was ihm not tut. Die menschliche Haut nämlich, die nicht nur Hülle iſt, wie
mancher glaubt, sondern ein äußerſt ſinnreich ausgeſtattetes Gefüge mit
lebenswichtigen Befugnissen, bedarf der besonderen Pflege, vor allem der
Zuführung von friſcher Luft, am liebſten unter Einwirkung des Sonnen-
lichtes. Daher gönne man ihr regelmäßig ein Luftbad, das im Notfall bei
offenem Fenſter in verſchloſſener Stube genommen werden kann, beſſer
freilich noch auf einem Balkon, der allerdings vor den Blicken neugieriger
Zuſchauer gesichert ſein muß. Um die empfindliche Haut allmählich an die
Luft zu gewöhnen, sollten Anfänger zunächſt nicht die ganze Bekleidung
fortlassen, ſondern das Luftbad in leichtem Hemd nehmen. Später kann
man auch dieſes entbehren.
Dem Neuling iſt einzuſchärfen, daß er ſich nicht gleich allzu ſtarker Be-
sonnung aussetzen darf, die besonders der Haut des Stadtbewohners nicht
zuträglich iſt. Ein Schutz des Kopfes iſt dringend zu empfehlen; auch ſol
man ſich lieber Bewegung machen als ſtill liegen bleiben; in erhittem Zu-
ſtande iſt Zugluft zu vermeiden. Kurzum, man ſoll nichts übertreiben und
nicht die Wetterfesſtigkeit und Abhärtung bereits als erreicht voraussetzen,
die doch erſt erworben werden ſoll. Es gibt ein ſehr einfaches Mittel der
Selbstbeobachtung; war das Sonnenbad vorschriftsmäßig durchgeführt,
so muß; ſich ein Wohlgefühl danach einſtellen. Die erſten Zeichen von Un-
behagen, Flimmern vor den Augen oder Herzklopfen ſollten Anlaß zur
Unterbrechung oder Abkürzung geben; töricht iſt das „Durchhaltenwollen“"
bestimmter Zeitabschnitte. Allmählich wird man die Sonnenbaddauer
ſteigern können, die anfangs nur zehn bis fünfzehn Minuten währen ſoll,