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Da s Buch für Alle
Heft 26
Die Türkei ohne Harem / Von Else Marquardsen-Kamphövener
Dä Titel könnte auch der Anoicht der meisten nach lauten: „Die Türkei
ohne Vielweiberei". Iſt es nicht ſo? Und doch liegt hier ſchon der-
jenige Irrtum zugrunde, der in der Beurteilung orientaliſcher Sitten ſo
verhängnisvoll iſt: der Irrtum des Nichtverſtehens. Denn das Wort
„Harem", das im Abendlande einen so ominöſen Beigeſchmack hat,
bedeutet in Wahrheit nichts anderes als „Frauenhaus“ und im übertra-
genen Sinne Familie. Wenn es die Sitte geſtattet hätte, einen Orientalen
nach dem Wohlergehen seiner Familie zu fragen + eine Ungehörigkeit,
die ſtreng verpönt war —, so hätte man nur ſagen können: „Wie befindet
ſich Ihr Harem?" Nichts von der Schwüle und Zweideutigkeit, die der
Okzident diesem Worte beilegt, besitzt es weder als Begriff noch auch als
lebende Tatsache. Es bedeutet eben jenen Teil des Hauſes, der den Frauen
vorbehalten iſt und wird auf die Insassen mit übertragen. Diese Inſaſsen
beſtanden aus allen Frauen der Familie und ihren Kindern, in den aller-
ſeltenſten Fällen aber aus mehreren Gattinnen oder Konkubinen. Die Viel-
weiberei war eine ſehr wenig geübte Sitte in der Türkei, und die Fälle
ſind an den Fingern herzuzählen, in denen Jie tatſächlich vorhanden war.
Meiſt war der Grund dann darin zu finden, daß die erſte Frau kinderlos
geblieben war und selbſt eine zweite Gattin für ihren Mann ausquchte, um
dem Hauſe den Segen der Kinder zu beſchaffen. Viel harmlose Fröhlichkeit
lebte in den Harems; viel Kinderlachen und Spielen; viel Erzählen froher
Geschichten; viel Fleiß in den wunderbaren Handarbeiten des Orients,
viel ſtrenge Zucht und Sitte und viel demütiges Gehorchen und Verehren
des Alters. Zwar hatten Jie dieſes für die Europäerin furchtbar Ermattende
an ich: man war niemals allein. Beſuchte man einen Harem bei Freunden,
ſo gab es keinen Augenblick, in dem man ich selbſt überlaſſen war; ſchlug
man morgens die Augen auf, ſo hockten Dienerinnen auf dieſen Augenblick
wartend am Boden, und schlief man abends ein, so hörte man Jie noch als
lettes, das das Bewußt9ein behielt, leiſe lachen und reden neben ſich. Der
Privatmenſch exiſtierte nicht. Die ſelbſtändig lebende Frau gab es nicht.
Sie war ein Teil eines Ganzen, war der Begriff „Familie“. Erſt wenn Jie
alt war, wurde sie eine Macht und herrſchte je nach ihren Fähigkeiten mit
mehr oder weniger Strenge über ihre jungen Mitſchwesſtern. Ob im Harem
des Vaters, ob in dem des Gatten, den Frauen verging das Leben wie ein
lieblicher Traum in der Geborgenheit + wenn kein Laut aus der Welt
zu ihnen drang ! Wehe aber, wenn das gesſchah! Wehe, wenn der ſehr rege
Geiſt der Türkin begann, ſich mit den Problemen des Lebens da draußen
zu beschäftigen! Wehe, wenn Jie zu vergleichen begann! Dann wurde das
Leben ihr zur Hölle, und sie litt die Qualen des zu lebenslänglicher Haſt
Verurteilten, die Kraft reichte nicht aus, um Jich wirklich von innen
heraus und nach außen wirkend zu befreien. Nun sind es aber ſchon drei
Jahrzehnte, daſz die Bewegung nach Freiheit unter den Frauen der Türkei
einsetzte und Jich in der verſchiedenſten Weiſe ausbreitete. Da war die Be-
wegung Groß-Turan und auch die Groß-JIran genannte; politiſch jede
eingestellt, doch jede mit der Befreiung der Frauen hauptſächlich beſchäftigt.
Schon seit nahezu fünfzehn Jahren hatte man es durchgesetzt, daß die
Frauen Berufe auſzerhalb des Hauſes ausüben konnten, und der Krieg
brachte es mit ſich, daß die fehlenden Männer durch Frauen erſett werden
mußten, besonders bei der Poſt und ähnlichen Ämtern. Die Frauen trugen
bei dieſen Beschäftigungen natürlich europäiſche Kleidung, jedoch ein
kleines Schleiertuch auf dem Kopf. Sicher iſt es, daß, wenn man die Sache
ſich ſelbſt überlassen hätte, in nicht allzu ferner Zeit das Leben der türtiſchen
Frau ſich den Anforderungen des neuen Werdens, das überall anklopfît,
angepaſzt hätte, und auf einer ruhevoll ſtarken Grundlage würde ſich ein
wirklich wesensſtarkes und lebensfähiges gebildet haben. Aber man griff
mit Befehlen und Gewaltmaßregeln ein, wie das nun ſchon einmal in
dieſer Zeit der Diktatoren Sitte iſt, und befahl von heute auf morgen das
Verschwinden des Harems, ſoll heißen, das Aufhören der Abgeschlossenheit
der Frau. Was also iſt die Folge? Unmittelbar die, daß die Buntheit des
Lebens, seine Härte, seine Lautheit auf eine große Menge von Frauen
einſtürmt, die desſſen völlig ungewohnt ſind. Frauen, die das Leben von
Kloſterfrauen geführt haben, jenen Kloſterfrauen, die ſich mit Kinder-
erziehung und Handarbeiten beſchäftigen, ſehen plötzlich jenſeits der
Mauern, hinter denen ſie ihre Tage verbrachten, ein wildes und lautes
Wogen und wissen sich keinen Schutz davor. Sie ſind es nicht gewohnt, im
Alltag zu stehen; Jie ſind es nicht gewohnt, am Leben des Mannes teilzu-
nehmen; sie ſind es nicht gewohnt, in die Geſchäfte des Tages hineingeriſſen
zu werden. Sie waren bisher die Blumen, die im Verborgenen blühen
und daran der Mann ich freut, der, müde von deiner Arbeit, alles Getriebe
da draußen vergeſſen will. Sie waren die, die Frieden bedeuteten in einem
ſtillen, abgeschloſſenen Hafen, wohin das wilde Wogen des Tageslärmes
nicht drang. Sie waren der Feiertag und ſollen der Alltag werden! Sie
ſollen mappentragend durch die Straßen laufen, wie wir es tun, und den
Blick des Mannes prüfend auf ihrem Antlitz ruhen fühlen – des Mannes,
der fremd und fern iſt und nichts mit ihrem Leben zu tun hat. Alles das
sollen Fie plötlich, ohne Übergang, ohne Zwiſchenpauſe = Jo als riſſe
man einem, der lange in einem verdunkelten Zimmer in der Stille ſaß,
um die geheilten Augen langſam an das Licht zu gewöhnen, urplötzlich die
Binde herunter im vollſten Sonnenlichte lauter Straßen. Die Folge
iſt, daß er erblindet, und zwar hoffnungslos. Seltſam, es gemahnt dieſes
Aufreißen der Harems an das Auflösen der Frauentlöſter, das Jo viele gute
ſtille Frauen ratlos dem lauten Leben preisgab. Und es gemahnt auch an
die wilde Neuerungswut jenes trefflichen Fähnrichs, der am erſten Tage
seines Dienstantritts in besagter hoher Charge entſchloſſen erklärte: „Die
Schweinerei hier muß anders werden!“ Nun alſo, „die Schweinerei“ iſt
nun „anders“ geworden. Die Harems ſind auf Befehl nicht mehr vorhanden,
und die Kultur von Jahrtausenden Joll ich innerhalb weniger Tage für
erledigt erklären; die Türkei nimmt die Gesetzgebung der Schweiz an, des
ſachlichſten Landes, das Jich denken läßt. Es ſteht jedem erwachſenen tür-
kiſchen Staatsbürger frei, ſich zu dem Glauben zu bekennen, der ihm als der
rechte erſcheint. Schön klingt das, frei, ſtark und groß. Und iſt doch nichts.
Wenn ein Volk aus ſeinem Wollen heraus Jich ſolche Gesetze ſchafft, Jie Jich
ſchafft aus ſeinem Innern, aus ſeinem Leben, Fühlen und Denken, dann
iſt es eine wunderbare Errungenſchaft, und man weiß, wieviel Leid er-
tragen worden sein muß, ehe dieſes erreicht wurde. Aber alles das geſchah
hier nicht. Hier wurde Todesſtrafe auf das Tragen des Jes geſetzt und auch
das Beibehalten alter Familienſitten mit den ſchwerſten Strafen belegt.
So aber züchtet man Reaktion und nicht Fortſchritt! Wenn die ſtarke Kraft,
die in der Türkei lebt, zu ihrer Entwicklung zugelaſſen worden wäre +
dieſe erſtaunliche Kraft, die es vermag, einem Volke nicht nur Widerſtand,
ſondern auch Neuschaffen zu geben, nachdem es seit achtzehn Jahren +
man bedenke achtzehn Jahren! + im Kriege lebt: ich ſage, wenn dieſe
ſtarke Kraft ihrem eigenen Entwicklungswillen überlaſſen worden wäre,
ſo hätte man etwas wahrhaft Großes erleben können. Hätte es erleben
können, daß die Träume der Freiheit, die gerade dieſes tyranniſierte Volt
seit Generationen glühend geträumt, aus sich heraus zur Tat geworden
wären, und ebenso wie seinerzeit der erſte Aufstand im Jahre 1900 kam,
ohne daſz irgend etwas Besonderes geſchehen wäre, einfach, weil die Zeit
reif war, ebenſo wäre auch dieſes große Werden eines Tages reif gewesen
zur Tat. Dann hätte es keines Befehls eines einzelnen bedurft, sei der, wer
immer er wolle! Dann wäre aus dem Volke ſelbſt das Wollen gekommen,
und alle alten, morſchen Dinge wären von ſelbſt geſtürzt vor dem kraft-
vollen Ansturm des Gewordenen. Aber jetzt? Jetzt heißt's: Du mußt, ob
du willst oder nicht! Und das iſt jammerſchade. Denn hier beſtand immer
noch die Hoffnung, insbesondere im Hinblick auf das Frauenleben, daß vom
Orient aus die wahre, die große Frauenbewegung kommen könnte, die-
jenige Frauenbewegung, die wir noch nicht haben, trotz Frauenstimmrecht
und allem Drum-und-Dran. Denn aus der Mutter muß die große Frauen-
bewegung kommen; aus der, die der Welt die Männer gibt und dich als
die ſo Gebende fühlt. Und eben das iſt bei der Frau des Orients der Fall.
Sie iſt Mutter, vor allem Mutter, bis ins tiefſte Mutter, und wichtiger als
alles dünkt es sie, Mutter zu sein. Und darum ruht ihre Macht an den
Wurzeln der tiefsten Kraft alles Frauentums. Darum iſt von ihr soviel zu
erwarten für das gesamte Frauenleben der Gegenwart und der Zzutunft;
darum wäre es so groß und gut gewesen, wenn man ihr die Entwicklung
ſelbſt überlassen hätte, ſtatt ſie ihr aufzuzwingen. Die Zeit, in der wir leben,
iſt groſz, ſtark und reich; ſie iſt voll von den wunderbarſten Möglichkeiten,
und nichts, das ſich überlebt, wird ihrem ſtarken reinen Atem ſtandhalten.
So konnte man auch in Ruhe das Werden der großen Freiheit im Frauen-
leben des Orients abwarten und brauchte nicht durch gewaltſame Verord-
nungen eine künſtliche Reaktion zu züchten. Man hat dadurch erreicht, daß
gerade die reifen Frauen, die so ſehr viel bedeuten im Geiſtesleben der
orientalischen Frau, sich zurückziehen von einer Art der Betätigung, die
nur auf Äußerliches gerichtet ſein kann. Sie ſuchen das zu halten, was ihnen
immer noch als die Kraftquelle des Mannes erſcheint: die Familie und ihre
heilende, ruhevolle Macht. Sie laſſen ihre jungen Mitschwestern wie die
Füllen, die Freiheit ſpüren, davonraſen in das Unbekannte und warten,
bis sie, zerschlagen von den Hieben des fremden Lebens, wieder in ihren
Schutz zurückkehren. Sie wiſſen es, daß von ihnen, von den Müttern, die
wahre große Befreiung ausgehen wird, und Jie warten ihrer Zeit ~ den
Harem hütend. Aber Jie gelten als die Reaktionären. Dazu hat ein Befehl
ſie geſtempelt. Doch von ihnen iſt noch zu erhoffen, daſz auch die Frauen
des Abendlandes an ihrem Ertragen wieder erneut ſehen und erkennen, daß
die Welt, sei ſie ſo oder so, um beſtehen zu können, in Kraft und Schöne
immer wieder dieſes braucht: Ruhe in den Müttern. Das hat der auf
Befehl nicht mehr vorhandene Harem des Orients uns zu sagen.
Da s Buch für Alle
Heft 26
Die Türkei ohne Harem / Von Else Marquardsen-Kamphövener
Dä Titel könnte auch der Anoicht der meisten nach lauten: „Die Türkei
ohne Vielweiberei". Iſt es nicht ſo? Und doch liegt hier ſchon der-
jenige Irrtum zugrunde, der in der Beurteilung orientaliſcher Sitten ſo
verhängnisvoll iſt: der Irrtum des Nichtverſtehens. Denn das Wort
„Harem", das im Abendlande einen so ominöſen Beigeſchmack hat,
bedeutet in Wahrheit nichts anderes als „Frauenhaus“ und im übertra-
genen Sinne Familie. Wenn es die Sitte geſtattet hätte, einen Orientalen
nach dem Wohlergehen seiner Familie zu fragen + eine Ungehörigkeit,
die ſtreng verpönt war —, so hätte man nur ſagen können: „Wie befindet
ſich Ihr Harem?" Nichts von der Schwüle und Zweideutigkeit, die der
Okzident diesem Worte beilegt, besitzt es weder als Begriff noch auch als
lebende Tatsache. Es bedeutet eben jenen Teil des Hauſes, der den Frauen
vorbehalten iſt und wird auf die Insassen mit übertragen. Diese Inſaſsen
beſtanden aus allen Frauen der Familie und ihren Kindern, in den aller-
ſeltenſten Fällen aber aus mehreren Gattinnen oder Konkubinen. Die Viel-
weiberei war eine ſehr wenig geübte Sitte in der Türkei, und die Fälle
ſind an den Fingern herzuzählen, in denen Jie tatſächlich vorhanden war.
Meiſt war der Grund dann darin zu finden, daß die erſte Frau kinderlos
geblieben war und selbſt eine zweite Gattin für ihren Mann ausquchte, um
dem Hauſe den Segen der Kinder zu beſchaffen. Viel harmlose Fröhlichkeit
lebte in den Harems; viel Kinderlachen und Spielen; viel Erzählen froher
Geschichten; viel Fleiß in den wunderbaren Handarbeiten des Orients,
viel ſtrenge Zucht und Sitte und viel demütiges Gehorchen und Verehren
des Alters. Zwar hatten Jie dieſes für die Europäerin furchtbar Ermattende
an ich: man war niemals allein. Beſuchte man einen Harem bei Freunden,
ſo gab es keinen Augenblick, in dem man ich selbſt überlaſſen war; ſchlug
man morgens die Augen auf, ſo hockten Dienerinnen auf dieſen Augenblick
wartend am Boden, und schlief man abends ein, so hörte man Jie noch als
lettes, das das Bewußt9ein behielt, leiſe lachen und reden neben ſich. Der
Privatmenſch exiſtierte nicht. Die ſelbſtändig lebende Frau gab es nicht.
Sie war ein Teil eines Ganzen, war der Begriff „Familie“. Erſt wenn Jie
alt war, wurde sie eine Macht und herrſchte je nach ihren Fähigkeiten mit
mehr oder weniger Strenge über ihre jungen Mitſchwesſtern. Ob im Harem
des Vaters, ob in dem des Gatten, den Frauen verging das Leben wie ein
lieblicher Traum in der Geborgenheit + wenn kein Laut aus der Welt
zu ihnen drang ! Wehe aber, wenn das gesſchah! Wehe, wenn der ſehr rege
Geiſt der Türkin begann, ſich mit den Problemen des Lebens da draußen
zu beschäftigen! Wehe, wenn Jie zu vergleichen begann! Dann wurde das
Leben ihr zur Hölle, und sie litt die Qualen des zu lebenslänglicher Haſt
Verurteilten, die Kraft reichte nicht aus, um Jich wirklich von innen
heraus und nach außen wirkend zu befreien. Nun sind es aber ſchon drei
Jahrzehnte, daſz die Bewegung nach Freiheit unter den Frauen der Türkei
einsetzte und Jich in der verſchiedenſten Weiſe ausbreitete. Da war die Be-
wegung Groß-Turan und auch die Groß-JIran genannte; politiſch jede
eingestellt, doch jede mit der Befreiung der Frauen hauptſächlich beſchäftigt.
Schon seit nahezu fünfzehn Jahren hatte man es durchgesetzt, daß die
Frauen Berufe auſzerhalb des Hauſes ausüben konnten, und der Krieg
brachte es mit ſich, daß die fehlenden Männer durch Frauen erſett werden
mußten, besonders bei der Poſt und ähnlichen Ämtern. Die Frauen trugen
bei dieſen Beschäftigungen natürlich europäiſche Kleidung, jedoch ein
kleines Schleiertuch auf dem Kopf. Sicher iſt es, daß, wenn man die Sache
ſich ſelbſt überlassen hätte, in nicht allzu ferner Zeit das Leben der türtiſchen
Frau ſich den Anforderungen des neuen Werdens, das überall anklopfît,
angepaſzt hätte, und auf einer ruhevoll ſtarken Grundlage würde ſich ein
wirklich wesensſtarkes und lebensfähiges gebildet haben. Aber man griff
mit Befehlen und Gewaltmaßregeln ein, wie das nun ſchon einmal in
dieſer Zeit der Diktatoren Sitte iſt, und befahl von heute auf morgen das
Verschwinden des Harems, ſoll heißen, das Aufhören der Abgeschlossenheit
der Frau. Was also iſt die Folge? Unmittelbar die, daß die Buntheit des
Lebens, seine Härte, seine Lautheit auf eine große Menge von Frauen
einſtürmt, die desſſen völlig ungewohnt ſind. Frauen, die das Leben von
Kloſterfrauen geführt haben, jenen Kloſterfrauen, die ſich mit Kinder-
erziehung und Handarbeiten beſchäftigen, ſehen plötzlich jenſeits der
Mauern, hinter denen ſie ihre Tage verbrachten, ein wildes und lautes
Wogen und wissen sich keinen Schutz davor. Sie ſind es nicht gewohnt, im
Alltag zu stehen; Jie ſind es nicht gewohnt, am Leben des Mannes teilzu-
nehmen; sie ſind es nicht gewohnt, in die Geſchäfte des Tages hineingeriſſen
zu werden. Sie waren bisher die Blumen, die im Verborgenen blühen
und daran der Mann ich freut, der, müde von deiner Arbeit, alles Getriebe
da draußen vergeſſen will. Sie waren die, die Frieden bedeuteten in einem
ſtillen, abgeschloſſenen Hafen, wohin das wilde Wogen des Tageslärmes
nicht drang. Sie waren der Feiertag und ſollen der Alltag werden! Sie
ſollen mappentragend durch die Straßen laufen, wie wir es tun, und den
Blick des Mannes prüfend auf ihrem Antlitz ruhen fühlen – des Mannes,
der fremd und fern iſt und nichts mit ihrem Leben zu tun hat. Alles das
sollen Fie plötlich, ohne Übergang, ohne Zwiſchenpauſe = Jo als riſſe
man einem, der lange in einem verdunkelten Zimmer in der Stille ſaß,
um die geheilten Augen langſam an das Licht zu gewöhnen, urplötzlich die
Binde herunter im vollſten Sonnenlichte lauter Straßen. Die Folge
iſt, daß er erblindet, und zwar hoffnungslos. Seltſam, es gemahnt dieſes
Aufreißen der Harems an das Auflösen der Frauentlöſter, das Jo viele gute
ſtille Frauen ratlos dem lauten Leben preisgab. Und es gemahnt auch an
die wilde Neuerungswut jenes trefflichen Fähnrichs, der am erſten Tage
seines Dienstantritts in besagter hoher Charge entſchloſſen erklärte: „Die
Schweinerei hier muß anders werden!“ Nun alſo, „die Schweinerei“ iſt
nun „anders“ geworden. Die Harems ſind auf Befehl nicht mehr vorhanden,
und die Kultur von Jahrtausenden Joll ich innerhalb weniger Tage für
erledigt erklären; die Türkei nimmt die Gesetzgebung der Schweiz an, des
ſachlichſten Landes, das Jich denken läßt. Es ſteht jedem erwachſenen tür-
kiſchen Staatsbürger frei, ſich zu dem Glauben zu bekennen, der ihm als der
rechte erſcheint. Schön klingt das, frei, ſtark und groß. Und iſt doch nichts.
Wenn ein Volk aus ſeinem Wollen heraus Jich ſolche Gesetze ſchafft, Jie Jich
ſchafft aus ſeinem Innern, aus ſeinem Leben, Fühlen und Denken, dann
iſt es eine wunderbare Errungenſchaft, und man weiß, wieviel Leid er-
tragen worden sein muß, ehe dieſes erreicht wurde. Aber alles das geſchah
hier nicht. Hier wurde Todesſtrafe auf das Tragen des Jes geſetzt und auch
das Beibehalten alter Familienſitten mit den ſchwerſten Strafen belegt.
So aber züchtet man Reaktion und nicht Fortſchritt! Wenn die ſtarke Kraft,
die in der Türkei lebt, zu ihrer Entwicklung zugelaſſen worden wäre +
dieſe erſtaunliche Kraft, die es vermag, einem Volke nicht nur Widerſtand,
ſondern auch Neuschaffen zu geben, nachdem es seit achtzehn Jahren +
man bedenke achtzehn Jahren! + im Kriege lebt: ich ſage, wenn dieſe
ſtarke Kraft ihrem eigenen Entwicklungswillen überlaſſen worden wäre,
ſo hätte man etwas wahrhaft Großes erleben können. Hätte es erleben
können, daß die Träume der Freiheit, die gerade dieſes tyranniſierte Volt
seit Generationen glühend geträumt, aus sich heraus zur Tat geworden
wären, und ebenso wie seinerzeit der erſte Aufstand im Jahre 1900 kam,
ohne daſz irgend etwas Besonderes geſchehen wäre, einfach, weil die Zeit
reif war, ebenſo wäre auch dieſes große Werden eines Tages reif gewesen
zur Tat. Dann hätte es keines Befehls eines einzelnen bedurft, sei der, wer
immer er wolle! Dann wäre aus dem Volke ſelbſt das Wollen gekommen,
und alle alten, morſchen Dinge wären von ſelbſt geſtürzt vor dem kraft-
vollen Ansturm des Gewordenen. Aber jetzt? Jetzt heißt's: Du mußt, ob
du willst oder nicht! Und das iſt jammerſchade. Denn hier beſtand immer
noch die Hoffnung, insbesondere im Hinblick auf das Frauenleben, daß vom
Orient aus die wahre, die große Frauenbewegung kommen könnte, die-
jenige Frauenbewegung, die wir noch nicht haben, trotz Frauenstimmrecht
und allem Drum-und-Dran. Denn aus der Mutter muß die große Frauen-
bewegung kommen; aus der, die der Welt die Männer gibt und dich als
die ſo Gebende fühlt. Und eben das iſt bei der Frau des Orients der Fall.
Sie iſt Mutter, vor allem Mutter, bis ins tiefſte Mutter, und wichtiger als
alles dünkt es sie, Mutter zu sein. Und darum ruht ihre Macht an den
Wurzeln der tiefsten Kraft alles Frauentums. Darum iſt von ihr soviel zu
erwarten für das gesamte Frauenleben der Gegenwart und der Zzutunft;
darum wäre es so groß und gut gewesen, wenn man ihr die Entwicklung
ſelbſt überlassen hätte, ſtatt ſie ihr aufzuzwingen. Die Zeit, in der wir leben,
iſt groſz, ſtark und reich; ſie iſt voll von den wunderbarſten Möglichkeiten,
und nichts, das ſich überlebt, wird ihrem ſtarken reinen Atem ſtandhalten.
So konnte man auch in Ruhe das Werden der großen Freiheit im Frauen-
leben des Orients abwarten und brauchte nicht durch gewaltſame Verord-
nungen eine künſtliche Reaktion zu züchten. Man hat dadurch erreicht, daß
gerade die reifen Frauen, die so ſehr viel bedeuten im Geiſtesleben der
orientalischen Frau, sich zurückziehen von einer Art der Betätigung, die
nur auf Äußerliches gerichtet ſein kann. Sie ſuchen das zu halten, was ihnen
immer noch als die Kraftquelle des Mannes erſcheint: die Familie und ihre
heilende, ruhevolle Macht. Sie laſſen ihre jungen Mitschwestern wie die
Füllen, die Freiheit ſpüren, davonraſen in das Unbekannte und warten,
bis sie, zerschlagen von den Hieben des fremden Lebens, wieder in ihren
Schutz zurückkehren. Sie wiſſen es, daß von ihnen, von den Müttern, die
wahre große Befreiung ausgehen wird, und Jie warten ihrer Zeit ~ den
Harem hütend. Aber Jie gelten als die Reaktionären. Dazu hat ein Befehl
ſie geſtempelt. Doch von ihnen iſt noch zu erhoffen, daſz auch die Frauen
des Abendlandes an ihrem Ertragen wieder erneut ſehen und erkennen, daß
die Welt, sei ſie ſo oder so, um beſtehen zu können, in Kraft und Schöne
immer wieder dieſes braucht: Ruhe in den Müttern. Das hat der auf
Befehl nicht mehr vorhandene Harem des Orients uns zu sagen.