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Dieser Tatbesland blcibt immerhin bemerkenswert, denn im 19. Jahrhundert war zwar das
Zeichnen nacli autiker Skupltur gang und gabe, nicht aber das Zsichnen von zeitgenoissscher
Plastik17. Wenu also Bahr diese Portratbiiste zeichnete, dann aus zweierlei Grunden: er hielt
sowohl das weithin gefeierte Kunstwerk (von Rietschel) ais auch das B i 1 d n i s (Rauchs)
fest. Implizit war auch noch die erwahnte Lehrer-Schuler-/Meister-Geselle-Beziehung darin
enthalten, ein Ideał von freundschaftlicher Zusammenarbeit, das allerdings nur dem Einge-
weihten verstandlich sein konnte. Sofern die Zuschreibung an J.K.U. Bahr richtig ist, karne ais
vierte, ebenfalls nur dem Eingeweihten verstandliche Ebene die freundschaftliche Yerbindung
der Dresdner Kollegen Rietschel und Bahr im Kreise um Richter hinzu. Es ist auffallig, dafl
im 19. Jahrhundert nur dann zeitgenossiehe Plastik zum wiirdigen Gegenstand fiir Zeichner
wurde, wenn diese Werke weithin beriihmt waren und gewissermaBen kultische Verehrung
genossen. Das wohl spektakuliirste Beispiel dafiir ist Danneckers Ariadnę auf dem Panther von
1803—14. Diese Marmorskulptur wurde von Carl Blechen (1798—1840) und von Johann Adam
Ackermann (1780—1853) gezeichnet18.

Die in ihrem skulpturalen Aufbau komplizierte „Ariadnę" eignete sich nicht zum Lehrstiick
im Unterricht; Rauchs Biiste hingegen wurde an der Berliner Akademie ais solches benutzt:
„An der Biiste Rauchs von Rietschel, das Pracht- und hóchste Probestiick in der Holbeinschen
Klasse, muBte mindestens vier Wochen gezeichnet werden, und wir vertrieben uns oft Tage
lang die Zeit damit, mit gekneteten Brotkiigelchen die kleinen Flecken und TJnebenhciten aus
den mit dem Wischer hergestellten Schattenflachen oder dem Ilintergrund herauszutupfen"19.
So iiberlieferte es der seinerzeit beruhmte Berliner Bildhauer Ernst Herter (1846—1917). Dieser
Bericht verdeutlicht mehreres zugleich: Die flott hingeworfene Warschauer Zeichnung kann
kein Produkt solcher Unterrichtsmartyrien sein; sie entstand vielmehr in kurzer Zeit und unter
dem unmittelbaren, frisch erhaltenen Eindruck der Biiste, nicht gelangweilt von falsch fordern-
den Lehrmethoden. (Wobei freilich nicht ausgeschlossen werden kann, daB ein anderer Lehrer
weniger pedantisch verfuhr und daB das Blatt doch seinen Ursprung in der Akademie hat.)
Ferner bestatigt der Bericht, daB die bereits skizzierte ,,Reliquien"-Verehrung, die sonst vom
19. Jahrhundert vor allem antiker Skulptur zukam, sich auch auf die halb rituell, halb knechtisch
angelegte Lehrmethode der Akademie anhand zeitgenóssischer Plastik erstreckte. In dem
zitierten Bericht Herters haben wir einen relativ friihen Beleg fiir die systematische Verwendung
zeitgenóssischer (anstelle antiker) Plastik ais S t u d i e n objekt fiir Kunstschuler. Es verwun-
dert nicht, daB dafiir gerade in Berlin gerade diese Biiste benutzt wurde, betrachtete man doch
Rauch ais den bedeutendsten deutschen Bildhauer jener Zeit (und vielleicht ais bedeutendsten
seit Peter Vischer iiberhaupt), ais Stamnwater der Berliner Bildhauerschule, Rietschel
hingegen ais bedeutendsten in der Diaspora lebenden Nachfolger Rauchs.

Noch im spaten 19. Jahrhundert wurde in der Berliner Akademie nach den (noch im mer obli-
gatorischen) Antikenabgussen und nach ausgewahlter zeitgenóssischer Plastik, insbesondere
nach Portratkopfen20 gezeichnet. Hier und andernorts wurden solche Modelle jedoch nicht

17 Das Iriiheste Beispiel einer Zeichnung nach einer Portratbiiste gibt mcines Wissens Hans Holbeins d. J. Portratzeichnung
des John Colet nach der Piętro Torrigiano zugeschriebenen Biiste, die ehedem in einer Nisehe auf Colets Grabina] in der
Alten St. Pauls-Kathedrale stand. Allerdings motivierte Holbein (oder seinen Auftraggeber, viellcicht Thomas More) zu
dem Blatt zweifellos nur das Interesse an dem Dargestellten, niebt an dem ..Kunstwerk". Dies wird daran deutlich, dali —
wie bei fast ausnabmslos alleu Bildniszeichnungen Holbeins — die Gesichtsziige akribisob. aber die Schulter- und Brust-
partieu summarisch behandelt sind. (Zu der Zeichnung vgl.: Holbein. Zeichnuneen vom Ilofc Heinriclis VIII. Funfzia
Zeichnungen <ius der Sammlung łhrer Majestat Queen Elizabeth 11, Windsor Caslle. Katalog von Jane RobertS. Hamburg,
Basel, 1988, Kat. Nr. 44 mit Abb. der Biiste und der Zeichnung).

18. Ulrike Gauss, Johann Heinrich Dannecker. Der Zeichner. Stuttgart, 1987. S. 181, Abb. Z 157, 1.

19. Ziticrt nach: Georg Malkowsky, Ernst Herter, Berlin, 1906, S.27. Vgl.auehoben Anm. 7.

20. Zur J„belfeierl6<J6—im. Hrsg. von der Konigl. Akad. Hochschulc fur die bildenden Kuustc iu Berlin. Berlin 1896, S. 290.

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