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Form von Radierungen, die sich in kunstlerischer Hinsicht mit den Meisterwerken Klin-
gers messen kónnen und auch ahnliche Themen aufgreifen. Ais Beispiel kónnen hier
Tanzerin I (Abb. 4) oder Der verwegene Gartner genannt werden, in denen ferne
Anklange an die Vorstellungen Klingers von der Frau und dem Tod zu finden sind.

Der nachste Kunstler, in dessen Arbeiten eine jugendliche Faszination durch die Klin-
gerschen Graphikien zu spiiren ist, war Antoni Kamieński (1860-1935). Zunachst ver-
suchte er, an der Petersburger Kunstakademie zu studieren, dann fuhr er nach Paris
(1891) und trat in die Akademie Julian ein, wo er sich zwei Jahre lang in Bildhauerei und
Malerei ubte. Er blieb dort bis 1894, danach „pendelte” er zwei Jahre lang zwischen War-
schau und Paris. Ais ausgezeichneter Zeichner veróffentlichte er oft seine Arbeiten in
Zeitschriften, vor ailem in der Tygodnik Ilustrowany. Der mit Podkowiński befreundete
Kunstler wurde ais „Vertreter der schwarzen Strómung”11 angesehen, der in seinen Kom-
positionen durch Motive eines „Totenreichs der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung”12
ins Erstaunen zu versetzen suchte. Er war vom deutschen Symblismus fasziniert, und
nachdem er sich in Paris mit dem Schaffen Klingers bekannt gemacht hatte, ubernahm
er auch dessen Uberzeugung von der besonderen Rolle der Graphik, eines Kunstge-
biets, das die geistige Botschaft des Kunstlers ubermittelt, Geisteszustande im Grenzge-
biet zwischen Wirklichkeit und Traum auszudrucken erlaubt und den besten Kontakt zum
Empfanger herzustellen vermag.

Im Jahre 1895 schuf Kamieński einen groBen Karton, den er Unvollendetem Werk
(Abb. 5) betitelte und der der tragischen Situation eines genialen, von der Gesellschaft
und den Kritikern unverstandenen Kunstlers gewidmet war. Ais Ausdruck einer Verehrung
fur den verstorbenen Freund Podkowiński ausgefiihrt, greift er das Motiv des promethei-
schen Mythos vom Kunstler auf, dessen Bemuhen die Welt mit Elend und Vergessenheit
vergilt. Vergleicht man diese Zeichnung mit Klingers Angsten (Abb. 6), dem siebenten
Blatt der Folgę Ein Handschuh, Opus VI, aus dem Jahre 1881, scheinen Analogien offen-
kundig zu sein. Die bei Klinger von einem Alptraum gequalte Gestalt auf dem an die
Mauer geriickten Lager lehnt sich bei Kamieński schwer an die Wand. Die Gegenstande,
die den Bildhauer, ahnlich wie den Schlafenden umgeben, bilden eine eigene, feindliche,
dominierende Welt und erdrucken den Plelden. Der Betrachter spurt geradezu den Druck
Greuels, die Ohnmacht des Kunstlers, sein Unvermógen, die surreale Wirklichkeit zu
uberwinden. Im Jahre 1906 wiederholte der Kunstler diese Komposition in einer Radie-
rung. Ein Handschuh war ein besonderes Werk unter den Arbeiten Klingers, das durch
seine ungewohnliche Atmosphare, das schwer in Worte zu fassende Vokabular der Sym-
bole, die technische Meisterschaft, die groBartige Komposition der einzelnen Blatter und
eine gekonnte Narration innerhalb der gesamten Folgę einen uberaus starken EinfluB auf
viele Kunstler ausubte. Ali das inspirierte Kamieński zum Versuch, einen eigenen gra-
phischen Zyklus zu schaffen, den er nach dem Vorbild Klingers13 Ein Lied vom Leben
nannte. Es sollten neun Blatter werden: Triumphwagen des Lebens, Ein Lied von derJu-
gend, Ein Lied von der Liebe, Ein Lied vom dreiBigsten Lebensjahr, Ein Lied vom Herzen,
Ein Lied vom Gluck, Ein Lied vom Verdienst, Ein abendliches Panorama und Ein Lied vom
Tode. Urn 1897 entstand eines der zwei ausgefuhrten Blatter: Ein Lied vom dreiBigsten
Lebensjahr (Abb. 7). Man verglich14 es zu dem Elend (Abb. 8), dem siebenten Blatt der
Folgę Vom Tode zweiter Teil, Opus XIII, an das es durch seine Komposition mit den domi-
nierenden, sich uber den Flelden turmenden architektonischen und bildhauerischen Ele-
menten und durch eine Atmosphare des Pessimismus und der Hoffnungslosigkeit erin-

11. Diese Bezeichnung wurde von J. Wiercińska in der Arbeit Antoni Kamieński - zapomniany dekadent, op. cit., S.
154, verwendet.

12. Ebenda, S. 154.

13. Klinger wandte bei seinen Werken Musikterminologie an und bezeichnete sie ais Opus.

14. J. Wiercińska, op. cit., S. 181.

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