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14. Max Klinger, Ein Handschuh, Opus VI, 1878-1880, BI. 10: Amor, Radierung

In den Warschauer Kunstlerkreisen gab es noch zwei andere Kunstler, die dem Ein-
fluB Klingers erlagen. Der eine, Feliks Jabłczyński, begann sich fur dessen Kunst schon
Mitte der neunziger Jahre zu interessieren, angeregt durch die Berichte Jellentas und die
Berliner Ausstellungen. Aus Bewunderung fur die „schwarze Kunst” des Meisters heraus
unternahm er zahlreiche Versuche mit den Atztechniken. Im formalen Bereich blieb er ein
Expressionist, und nur eine seiner Arbeiten, die Radierung Psyche und der Tod (Abb.
13), die mit Humor an die anmutige Figur des Amor vom neunten Blatt der Folgę Ein
Handschuh, Opus VI (Abb. 14) und an die Folgę Amor und Psyche, Opus V, aus dem
Jahre 1880 anknupft, zeugt von seiner Verehrung fur Klinger.

Der andere von Klinger faszinierte Kunstler war der etwas jungere Franciszek Grzy-
mała Siedlecki (1889-1934), der nach seinem Aufenthalt in Munchen 1893 nach Paris
kam, wo er E. Munch kennenlernte. Der beriihmte Norweger war damals von den Radie-
rungen Klingers begeistert und lenkte wahrscheinlich auch das Interesse Siedleckis auf
sie. Nach Polen zuriickgekehrt, begann der Kunstler angestrengt an der Radiertechnik
zu arbeiten und mit Monotypien zu experimentieren. Oft stellte er seine Arbeiten im Kry-
wult-Salon aus. Aus dem Jahre 1902 stammt seine Radierung Psyche I (Abb. 15), die
man zu Gefesselt, dem elften Blatt der Klingerschen Folgę Ein Leben, Opus VIII, (Abb.
16) vergleichen kann. Obwohl sie thematisch dem Werk des deutschen Kunstlers fern ist,
erinnert sie daran durch die dramatische Gestaltung der Szene. Es sei am Rande hinzu-
gefugt, daB sich auch Munch15 in jener Zeit von der erwahnten Radierung Klingers inspi-
rieren lieB. Obwohl Siedlecki spater nicht mehr an Klingersche Motive anknupfte, blieb er
den Prinzipien seines Meisters treu und propagierte in Polen - ahnlich wie Klinger
in Deutschland - die Kunst der Graphik.

Das graphische Schaffen Max Klingers inspirierte die Kunstler auf unterschiedliche
Weise. Mai war es ein tiefer EinfluB, der ihre Auffassung von der Kunst grundlegend
veranderte, mai eine episodische Begegnung mit dem Meister oder seinen Arbeiten.
Ahnlich wie Kunstler anderer Lander lernten die Polen von Klinger nicht nur ein bestimm-
tes, fur den deutschen Symbolismus charakteristisches Motiv-Vokabular, sondern vor al-
lem graphische Kunstlerschaft, Kuhnheit bei technischen Lósungen, ein stetiges Suchen

15. 1895 fuhrte Munch die Lithographie Die Gasse (Carmen) aus, in der er das Motiv aus der behandelten Radie-
rung Klingers aufgriff.

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