72 II. Die Inoculation der Menschenblattern. Validation.
nicht, obgleich es hier gewöhnlich tiefe und lange eiternde Geschwüre
gab. Die Impfwunden verschloss man sofort durch Compressen, oder
Pflaster und Salben, und durch Rollbinden. Im Widerstreit mit der
kühlen Behandlung, welche Sydenham und andere Meister für die
natürlichen Pocken sanctionirt hatten, huldigte man bei den künst-
lichen von Neuem dem verwerflichen Regimen calidum, und übte die
weitere Nachbehandlung mit Purganzen u. dgl. ebenso schonungslos,
wie die Vorbereitung: Es gab auch Aerzte, welche die Inoculation,
auf die Wahrnehmung hin, dass schwächliche Personen zuweilen
nach Uberstandenen natürlichen Blattern kräftiger wurden, als ein
Heilmittel für debile Constitutionen, chronische Leiden aller Art,
Schwindsucht nicht ausgenommen, anpriesen. Kurz, die „Kunst"
Uberbot sich, das Geschenk des Volkes zu verunstalten, und die
Blatternimpfung artete zu einem verwegenen Spiel aus, dessen Glück
der Zufall beherrschte. Aber auch die gemeine Habsucht bemäch-
tigte sich derselben. Die Charlatanerie der Impfärzte, ihre Markt-
schreierei im wörtlichen Sinne, ihr Geheim- und Grossthun mit beson-
deren Kunstgriffen und specifischen Mitteln war in allen Ländern
berüchtigt. Aus den einfachen Nadelstichen der hindostanschen und
griechischen Weiber ward eine Operation des grössten Stils. Ein
„Arzt" leitete wochenlang die Vorbereitung, ein „Wundarzt" inserirte
die Pocken und besorgte die Wunden, während später wiederum
der erste Arzt die innere Nachbehandlung Ubernahm.
Keiner hat dieses erbärmliche Treiben, welches die Blatternangst
des Publikums ausbeutete, mit beissenderem Spotte überschüttet, als
Gatti. „Die Gewinnsucht der Aerzte befindet sich zu wohl bei der
Präparation, bei der complicirten Art zu inseriren, und bei der üblichen
Behandlung; die Aerzte werden sogar allezeit aus der Präparation
einen wesentlichen Theil der Inoculation machen, und werden solchen
den grossen Vortheil zuschreiben, welchen die inoculirten Blattern
vor den natürlichen voraus haben; sie werden immer mehr oder
weniger präpariren, oder wenigstens so thun, als ob sie präparirten,
sie werden fortfahren, ei-ternde Wunden zu verlangen, weil dieselben
noch zwei oder drei Wochen nach geendigter Krankheit, wie die
Präparation zwei oder drei Wochen vor deren Eintritt, die Aufsicht
und Hilfe des Impfarztes erfordern; denn ihnen ist es vortheilhaft,
dass man glaube, es gehöre viel Fleiss und viele Wissenschaft
dazu. — Der Eigennutz des Impfarztes bringt es mit sich, dass die
Krankheit, welche man durch die Inoculation bekommt, lieber ein
wenig stark, als gar zu leicht sei. Je mehr man ausgestanden hat,
desto lebhafter ist das Andenken der Gefahr, welcher man ent-
nicht, obgleich es hier gewöhnlich tiefe und lange eiternde Geschwüre
gab. Die Impfwunden verschloss man sofort durch Compressen, oder
Pflaster und Salben, und durch Rollbinden. Im Widerstreit mit der
kühlen Behandlung, welche Sydenham und andere Meister für die
natürlichen Pocken sanctionirt hatten, huldigte man bei den künst-
lichen von Neuem dem verwerflichen Regimen calidum, und übte die
weitere Nachbehandlung mit Purganzen u. dgl. ebenso schonungslos,
wie die Vorbereitung: Es gab auch Aerzte, welche die Inoculation,
auf die Wahrnehmung hin, dass schwächliche Personen zuweilen
nach Uberstandenen natürlichen Blattern kräftiger wurden, als ein
Heilmittel für debile Constitutionen, chronische Leiden aller Art,
Schwindsucht nicht ausgenommen, anpriesen. Kurz, die „Kunst"
Uberbot sich, das Geschenk des Volkes zu verunstalten, und die
Blatternimpfung artete zu einem verwegenen Spiel aus, dessen Glück
der Zufall beherrschte. Aber auch die gemeine Habsucht bemäch-
tigte sich derselben. Die Charlatanerie der Impfärzte, ihre Markt-
schreierei im wörtlichen Sinne, ihr Geheim- und Grossthun mit beson-
deren Kunstgriffen und specifischen Mitteln war in allen Ländern
berüchtigt. Aus den einfachen Nadelstichen der hindostanschen und
griechischen Weiber ward eine Operation des grössten Stils. Ein
„Arzt" leitete wochenlang die Vorbereitung, ein „Wundarzt" inserirte
die Pocken und besorgte die Wunden, während später wiederum
der erste Arzt die innere Nachbehandlung Ubernahm.
Keiner hat dieses erbärmliche Treiben, welches die Blatternangst
des Publikums ausbeutete, mit beissenderem Spotte überschüttet, als
Gatti. „Die Gewinnsucht der Aerzte befindet sich zu wohl bei der
Präparation, bei der complicirten Art zu inseriren, und bei der üblichen
Behandlung; die Aerzte werden sogar allezeit aus der Präparation
einen wesentlichen Theil der Inoculation machen, und werden solchen
den grossen Vortheil zuschreiben, welchen die inoculirten Blattern
vor den natürlichen voraus haben; sie werden immer mehr oder
weniger präpariren, oder wenigstens so thun, als ob sie präparirten,
sie werden fortfahren, ei-ternde Wunden zu verlangen, weil dieselben
noch zwei oder drei Wochen nach geendigter Krankheit, wie die
Präparation zwei oder drei Wochen vor deren Eintritt, die Aufsicht
und Hilfe des Impfarztes erfordern; denn ihnen ist es vortheilhaft,
dass man glaube, es gehöre viel Fleiss und viele Wissenschaft
dazu. — Der Eigennutz des Impfarztes bringt es mit sich, dass die
Krankheit, welche man durch die Inoculation bekommt, lieber ein
wenig stark, als gar zu leicht sei. Je mehr man ausgestanden hat,
desto lebhafter ist das Andenken der Gefahr, welcher man ent-