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Brunn, Heinrich von
Geschichte der griechischen Künstler (Band 1): Die Bildhauer — Stuttgart, 1889

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https://doi.org/10.11588/diglit.4968#0271
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IV. Die griechische Kunst in ihrem Streben nach äusserer Wahrheit. 267

lr> der Natur im Einzelnen beobachtet hat. in seinen Werken wirklieb darstellt.
Es kann daher keineswegs gewagt erscheinen. wenn wir auch bei Lysipp die
Möglichkeit eines ähnlichen Entwicklungsganges annehmen. Bringen wir aber
damit die Schürfe seiner Auffassungsgabe in Verbindung, so erklärt sich uns
zuerst in der ungezwungensten Weise, wie die argutiae operum custoditae in 381
nunimis quoque rebus gerade an den Werken des Lysipp besonders hervorge-
hoben werden. Sie können in nichts anderem bestehen, als in denjenigen Fein-
heiten, sei es der Bewegung, sei es der Bildung einzelner Formen, in welchen
häufig die feineren Eigentümlichkeiten eines Charakters ihren besonderen Aus-
druck find en. Ihre consequente Durchführung aber musste nothwendig zu der
von Quintilian gerühmten veritas führen, der Naturwahrheit, sofern sie auf einer
treuen Nachbildung der Formen beruht, wie sie dem beobachtenden Auge
erscheinen, nicht wie sie ihrem Wesen und ihrem Zwecke nach durch die Er-
forschung ihres Bildungsgesetzes erkannt werden. Sie so bestimmt nur auf das
Aeussere der Form zu bezieben, kann, wenn wir auf den blossen gramma-
tischen Sinn des Wortes sehen, vielleicht gewagt erscheinen. Doch gewinnt
diese Deutung ihre Bestätigung durch die Vergleichung analoger Erschei-
nungen gerade in der Zeit des Lysipp. Namentlich ist in dieser Beziehung
wichtig, was von seinem eigenen Bruder erzählt wird, er habe Portraits gemacht,
indem er die Maske über den lebenden Körper in Gyps formte, und den daraus
genommenen Wachsausguss nur einigermassen retouchirte. Hier sehen wir also
das Streben nach veritas, in welchem ihm sein Bruder vorangegangen war, bis
2um Extrem verfolgt. Wenn nun Lysipp sich nicht so weit verirrte, so werden
wir dies zum Theil dem Einflüsse zuschreiben müssen, welchen auf ihn noch
die ältere Kunst, namentlich das Vorbild des Polyklet ausübte. Gerade wenn
er als Autodidakt, wie wir vermutheten, vom Aeusseren und Einzelnen ausging,
musste ihn die Geschlossenheit eines Systems, wie des polykletischen, besonders
anziehen, weil er in ihm erkannte, wie hier das Einzelne im Zusammenhange
erst Werth erhielt. Doch konnte ihn dies noch nicht bestimmen, sofort aufzu-
geben, was er an Erfahrungen durch eigene Studien gewonnen. Vielmehr musste
er sich aufgefordert fühlen, in analoger Weise nach ähnlichen systematischen
Grundlinien diese seine eigenen Erfahrungen zusammenzuordnen und zu ver-
arbeiten. So erklärt sich, wie Lysipp den Doryphoros des Polyklet seinen Lehrer
nennen und doch zugleich das ganze in diesem verkörperte System umstossen
konnte, um ein anderes an dessen Stelle zu setzen, welches von jenem Streben
nach veritas, dem Scheine der Wahrheit, als dem bestimmenden Grundtone
ausging.

Schliesslich aber dürfen wir doch auch die Zeit, in welcher Lysipp thätig 38ii
war, nicht unberücksichtigt lassen. Denn mag ein Künstler auch noch so sehr aut
die Kunst seiner Zeit einwirken, ja sie beherrschen, so ist er doch selbst wieder
ein Kind eben dieser Zeit. Wie in der Periode des Phidias oder des Polyklet
die Begriffe des xctXög /«ya^og noch zu einem einzigen verschmolzen waren,
so erschien auch in der Kunst die körperliche Schönheit noch nicht getrennt
von ehrbarer Zucht und Würde, von geistigem Ernst und Adel. Man wollte
durch die Kunst erheben, begeistern, nicht blos gefallen. Die Zeit des Lysipp
dagegen zog dem genus austerum das iueundum, dem decor die elegantia vor.
 
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