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Brunn, Heinrich von
Geschichte der griechischen Künstler (Band 1): Die Bildhauer — Stuttgart, 1889

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https://doi.org/10.11588/diglit.4968#0270

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Die Bildhauer.

zuweisen, dass eine hohe Genialität im Schaffen idealer Gestalten dem Lysipp
nicht eigen war. Auch fanden wir, dass er trotz der unermesslichen Frucht-
barkeit sich doch bei der Wahl der Gegenstände innerhalb sehr bestimmter
Grenzen bewegte. Vor Allem war es die kraftvolle Jünglings- und Männer-
gestalt, welche er darzustellen liebte, und zwar ebensowohl in ihrem heroischen
oder athletischen Charakter, als in portraitmässiiren Bildungen. Bei den letz-
teren wollen wir hier noch einen Augenblick verweilen: denn gerade unter ihnen
linden sich drei von einer besonders ausgesprochenen Eigenthümlichkeit: die
des Alexander, des Sokrates und des Aesop. Es ist bekannt, dass der Kopf
des ersteren in Haltung und Ausdruck gewisse Unregelmässigkeiten zeigte.
Gerade deshalb aber schätzte dieser Herrscher seine Bildnisse von der Hand
des Lysipp so hoch, weil dieser Künstler allein es verstand, in ihnen trotz, ja
vielleicht vermittelst eines strengen Festhaltens an diesen fast krankhaften
Eigenthümlichkeiten auch das geistige Wesen, das »Jtfog, den Ausdruck des
Mannhaften, Löwenähnlichen, der eigen), also den lebendigsten Ausdruck der
Individualität wiederzugeben. Die Portraits des Sokrates und des Aesop aber
haben das unter einander gemein, dass in ihnen mit unschönen körperlichen
Formen ein hoher Grad geistigen Ausdrucks verbunden erscheint. Zwar wage
ich nicht., die vorzügliche Statue des Aesop in Villa Albani auf Lysipp zurück-
zuführen. Aber betrachten wir auch alle sonst bekannten Bilder dieses Fabel-
380 dichters ganz im Allgemeinen, so finden wir überall die körperliche Gebrech-
lichkeit mehr oder minder angedeutet und mit ihr den geistigen Charakter nicht
nur in Harmonie, sondern eigentlich erst aus ihr entwickelt. Dass Lysipp den
Aesop nicht nach dem Leben bilden konnte, thut hier nichts zur Sache. Ja.
wir müssen gerade deshalb um so mehr die feine Individualisirung des Aus-
drucks bewundern. Vergleichen wir nur das ebenfalls erdichtete Portrait des
Homer, so wird uns dieses an die Bemerkung des Plinius bei Gelegenheit des
Perikles von Kresilas erinnern, dass in solcher Auffassung die Kunst nobiles
viros nobiliores bilde: so durchaus ideal ist dieses Portrait erfasst. Bei dem
Aesop dagegen glauben wir einen jener fein- und scharfsinnigen Köpfe wirklich
vor uns zu sehen, wie sie diesen krüppelhaften Gestalten nicht selten im Leben
eigen sind. An diese Bemerkungen Hessen sich leicht ähnliche über die Thier-
bildungen des Lysipp anreihen, deren lebensvoller Ausdruck die Bewunderung
des Alterthums erregte. Doch genügt auch das Gesagte, um auf den Satz hin-
zuleiten : dass wir als den Grundzug in dem künstlerischen Charakter des
Lysipp die schärfste Beobachtung und Aulfassung aller Erscheinungen der Wirk-
lichkeit anerkennen müssen. Wie aber derselbe für das Wesen seiner Kunst
so durchaus entscheidend werden konnte, das wird sich vollständig erst dann
erklären lassen, wenn wir uns nochmals erinnern, auf welchem Wege er sich
zu so hoher Vortrefflichkeit emporarbeitete.

Es ist eine häufiger wiederkehrende Thatsache, dass der Autodidakt bei
der Betrachtung der Natur weniger auf die inneren Bildungsgesetze derselben,
als auf die äussere Erscheinung, und. besonders in den ersten Stadien seiner
Entwickelung, weniger auf diese in ihrer Gesammtheit, als auf Einzelnheiten
derselben seine Aufmerksamkeit richtet. Er wird seine künstlerische Aufgabe
um so vollständiger zu erfüllen meinen, je mehr er die Summe dessen, was er
 
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