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Brunn, Heinrich von
Geschichte der griechischen Künstler (Band 1): Die Bildhauer — Stuttgart, 1889

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https://doi.org/10.11588/diglit.4968#0397
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VI. Die griechische Kunst zur Zeit der römischen Herrschaft.

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Ausdruck in seinen feineren Beziehungen nicht unwesentlich verändert wurde.
Zum Beweise dieses letzteren Satzes wollen wir hier nur ein einziges Werk
einer genaueren Betrachtung unterwerfen, nemlich die mediceische Venus.

Dieselbe weicht in der Stellung der Füsse kaum von der knidischen ab;
die Haltung des rechten Armes hat sie mit der troischen (zufolge der Gopie
des Menophantos), beider Arme mit der capitolinischen u. a. gemein. Aber
sie ist nicht nur ganz nackt, wie jene, sondern hat nicht einmal ein Stück
Gewand auch nur zur nothdürftigen Umhüllung neben sich in Bereitschaft; und
wiilnend bei jenen sich stets eine gewisse Befangenheit und Aengstlichkeit,
überrascht zu werden, namentlich in der Haltung des Kopfes ausspricht, erscheint
bei der mediceischen dadurch, dass der Blick mehr nach der Seite und etwas
nach oben und in die Ferne gerichtet ist, jene unbewusste Züchtigkeit bei
weitem weniger streng gewahrt: die mediceische ist unter allen genannten die-
jenige, welche sich am meisten der Beize ihres Körpers bewusst und am wenig-
sten ängstlich bedacht ist, sie der Betrachtung zu entziehen. So ist also hier
der Künstler, obwohl er sich in der Idee des Ganzen an ältere Vorbilder an-
scbloss, durch geringe Veränderungen zu einer gewissen Selbständigkeit der
Auffassung gelangt; und wenn auch jener leise Zug von Selbstgefälligkeit
keineswegs als ein Fortschritt zu höherer Schönheit gelten darf, so wird doch
der dadurch bedingte feine sinnliche Beiz im Alterthume ebensowohl seine Be-
wunderer gefunden haben, als in der neueren Zeit. Doch will ich keineswegs
daraus allein die Anziehung erklären, welche diese Statue stets auf die feinsten
Kenner ausgeübt hat. Wir werden dabei vielmehr die Durchführung nicht
weniger, als die Erfindung, in Anschlag bringen müssen und zugleich auf die
Erörterung der Frage eingehen, ob und bis zu welchem Grade auf diesem
Gebiete die neu-attische Kunst ihre Selbständigkeit gewahrt hat.

Die früher angeführten Bildungen der Göttin zeigen sämmtlich eine grössere
Fülle der Formen, als die mediceische; sie sind kräftiger in ihrem ganzen Bau
und in der Anlage. Eine besondere Sorgfalt ist ferner, namentlich in der capi-
tolinischen, auf die Behandlung der Oberfläche des Körpers gerichtet; die Haut
und alle Theile, welche zur Vermittelung der schärferen Uebergänge in den
Grundformen dienen, sind mit einer täuschenden Naturwahrheit und Weichheit
dargestellt, die uns sogar um die Richtigheit der darunter liegenden Formen
unbesorgter sein lässt. In der mediceischen Statue ist die ganze Anlage magerer
und zarter; die Grundformen treten daher klarer und offener hervor; und da
ein Mangel an Verständniss derselben sich durch eine weichere, vollere Behand-
lung der äusseren Hülle nicht verdecken Hess, so hat auch der Künstler auf
die Feinheit und Zartheit der Durchbildung alles Einzelnen seine grösste Sorg-
falt verwandt. Dadurch erscheint die Göttin in allen ihren Formen jugendlicher
und jungfräulicher, als in den anderen Bildern: und unter diesem Gesichts-
punkte Hesse sich sogar behaupten, dass der Künstler das Ideal noch um eine
Stufe höher, als die früheren, ausgebildet habe. Allein etwas durchaus Neues
hat er dennoch nicht geschaffen, und zu schaffen auch wohl kaum beabsichtigt;
sondern nur gestrebt, der Uebersättigung, welche durch die Weichheit und Fülle
anderer Bildungen entstehen mochte, durch eine subtilere und raffinirtere Zart-
heit, gewissermassen ein v.araTi]y.tiv der Kunst, wie es von Kallimachos heisst,
 
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