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Litteratm die Zunge löst und die Schleusen der Massenkritik aufgezogen werden.
Angesichts der öffentlichen Gnnst, in der die Knnst jetzt zu stehen scheint, könnte
man ja versucht sein, sich in perikleischc Zeiten zurückversetzt zu finden, wie denn
auch Berlin bereits Olympia (und Pergamon) auf dem „nassen Dreieck" wieder
aufgebaut sah. Ja, wir übertreffen die Griechen. Die Künstler werden bei
uns als Wesen höherer Art weit außerhalb der übrigen Menschenwelt gestellt,
und ihnen wird ein Rang angewiesen, dem gegenüber der sonst gültige moralische
Maßstab nicht mehr verwendbar sei. Wenn aber die Wirkungen der Kunst auf
die sittliche Lebensführung derjenigen, welche sie am allernächsten und tiefsten er-
fahren, negative wären, wo bleiben dann alle die hohen Reden, die man land-
läufig von ihr als wichtiger und einflußreicher Kulturmacht führen hört?
Das Verhältnis von Knnst zu der christlichen Moral bestimmt nun Stein-
haufen dahin, daß allerdings der Kunst ein selbständiges Gebiet des geistigen
Lebens zukomme, daß aber ebenso gewiß auch sie in ihrem höchsten Ziele zur
Förderung der Sittlichkeit zu wirken berufen sei. Die Kunst erfordert vornweg
einen besondern Sinn für das Schöne, die Phantasievolte Empfänglichkeit für die
gegebene Schönheit. Die nötige Stärke dieser aufnehmenden und wiedererzeugenden
Phantasie hat nicht jeder, daher auch Teilnahme und Verständnis für alle oder-
einzelne Knnst nicht jedermanns Sache ist. Die Kunst hat es auf Steigerung
des Lebensgefühls, auf Erzeugung von Freude und Lust abgesehen. Während die
Moral in die Gewissensarbeit, in die Selbstverleugnung, in die für das mensch-
liche Herz schwerste Arbeit hineinführt, spannt die Kunst davon aus, will dem
Empfänglichen Genuß gewähren und bewegt sich im Reiche der Freiheit. Sind
also Kunst und Moral verschieden und hat letztere, sofern sie das Heilige zum
Inhalt hat, eine höhere Würde, so sind doch beide wieder verwandt, wie das
Schöne und das Gute an sich verwandt sind. Die Kunst kann auf das Gemüt
veredelnde Wirkung ausüben, indem sie durch die eigentümliche Art des von ihr
gewährten Genusses die Seele aus der Gewalt niederer Triebe befreit und in
eine solche Stimmung versetzt, an welche die moralische Arbeit anknüpsen kann.
In diesem Sinn die christliche Moral zu fördern, ist jede Kunstübung, nicht
bloß die eigentlich religiöse, berufen. Wo nur echter Kunsttrieb zu Grunde liegt,
wird jener Genuß erzeugt, welcher mit dem grobsinnlichen nichts zu thun hat,
sondern erheitert ohne zu zerstreuen, das Alltagsgefühl unterbricht und die Seele
doch zu sich selbst sammelt, sie hineinfllhrt in die Buntheit der Dinge und zugleich
zur Einkehr in sich selbst. Die christliche Kunst beschränkt sich nicht auf christ-
lich-religiösen Inhalt; sie kann auch „weltlichen" Inhalt haben, ohne darum
ungeistlich zu werden. Von der Art, wie sie in die Welt hinein- und was sie
aus ihr heraussieht und hört, hängt das Maß ihrer Christlichkeit oder Unchrist-
lichkeit ab. Die derbste Naturwahrheit kann sich mit der lebendigen Seele edeln
geistigen Gehalts einigen. So soll, um ein Beispiel L. Richters zu brauchen,
der verlorne Sohn allerdings nicht wegen seiner Lumpen Gegenstand künstlerischer
Darstellung werden, aber ohne die Lumpen und zwar die ungewaschenen und
ungeflickten, würde er aufhören, uns im Bilde zu sagen, was er uns sagen soll.
Nun aber die große Frage: ist ein die Sitten und die Sittlichkeit veredelnder
 
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