61
Und vorsichtig in besonderem Maße wird die Untersuchung, die sich auf der
zweiten Linie bewegt, zu Werke gehen müssen. Das, was das Mißtrauen so
weiter Kreise gegen sie erweckt hat, sind die raschen und bestimmten Schlüsse vom
Geiste der Zeit auf bestimmte Formen innerhalb des gotischen Stils als seiner
Äußerungen. Es mußte die ruhigere Erwägung befremden, wenn Lepsins be-
hauptete, der Geist des neuen Stils hätte gerade die Form des Spitzbogens
erfinden müssen, hätte er sie nicht schon vorgefunden. Ähnliche enthusiastische
Äußerungen sind ja namentlich in kulturgeschichtlichen Werken keine Seltenheit
geblieben, hatten aber auch in bedeutenderen kunstgeschichtlichen Werken, z. T. selbst
bei Kugler u. a., breiteren Raum gefunden! und die Reaktion dagegen, die auf
französischem Boden von Viollet-le-Duc und auf deutschen: von Ungewitter aus-
ging, war in ihren: Anlaß nicht unverständlich. Doch dürfen solche extreme
Anschauungen heut ja als überwunden gelten. Die Konstruktion hat besonders
im einzelnen ihre eigene Bedeutung. Mit der Unterlegung der Nippe unter das
Kreuzgewölbe oder mit der Verstärkung des Widerlagers gegen den stärkeren
Seitenschub hat eben die Phantasie nichts zu thun. Und dennoch — aus der
Konstruktion allein ist nicht das volle Verständnis für die Gesnmterscheinung
der gotischen Architektur zu gewinnen. Insonderheit für die kunstgeschichtliche
Bedeutung des Stils bleibt die Erkenntnis des geschichtlich bedingten Ursprungs
der bedeutendste Moment. Es wäre eine verdienstvolle Arbeit, das in: Zu-
sammenhang für die Gotik darzulegen. Die Umrisse dafür liegen beinahe klar
zu Tage.
Es ist viel darüber gehandelt, welchen Name:: man dem Wunderkind in
der Baukunst beilegen solle. Man sollte ihr ihren alten Rainen lassen. Die
Gotik wird, wie einst die Geusen, ihren Spottnamen mit Ehren durch die Ge-
schichte tragen. Freilich, wollte man sie ihren: Wesen nach nennen, dann wäre
die Bezeichnung als germanischer Stil die treffende. Nicht, als sollte bannt
einen: Ursprung auf deutschen: Boden das Wort geredet werden, ein Sinn, den
man fast ausnahmslos nut jenem Namen verbinden wollte. In den Verdacht
wird der Verfasser nach den obigen Darlegungen nicht kommen. Und doch ist
er geneigt, für die Erklärung dieser Stilerscheinung vorzüglich das ethnologische
Moment in Anspruch zu nehmen und den: des „Geistes der Zeit" erst eine
sekundäre Bedeutung beizumessen.
Es würde zu weit führen, zu diesen: Behuf hier die Unterschiede zwischen
romanischen: und germanischem Volkscharakter dnrzulegen. Das kann als fest-
stehend gelten, daß der eine von: fornmlistischen Prinzip beherrscht erscheint, der
andere die Tiefe des Gedankens nut der des Gemütes verbindet. Auf religiösen:
bildet der eine die Organisation aus, der andere den Materinlknnon; dort das
festgefügte System der nua 8auokn in seinem Ursprung, hier die Sorge für den
Heilsinhalt und -weg. In der Kunst dort Rafael, der den Ausdruck höchster
irdischer Schönheit in feiner Sirtina findet, hier Dürer, der in: Titelblatt der
großen Passion nut so schwachen äußeren Mitteln die ergreifendste Martergestalt
zeichnet, von der es in: höchsten Sinne heißt: Er hatte keine Gestalt noch Schöne;
dort das Auge an der Natur und ihrer Wahlordnung nut voller Befriedigung
Und vorsichtig in besonderem Maße wird die Untersuchung, die sich auf der
zweiten Linie bewegt, zu Werke gehen müssen. Das, was das Mißtrauen so
weiter Kreise gegen sie erweckt hat, sind die raschen und bestimmten Schlüsse vom
Geiste der Zeit auf bestimmte Formen innerhalb des gotischen Stils als seiner
Äußerungen. Es mußte die ruhigere Erwägung befremden, wenn Lepsins be-
hauptete, der Geist des neuen Stils hätte gerade die Form des Spitzbogens
erfinden müssen, hätte er sie nicht schon vorgefunden. Ähnliche enthusiastische
Äußerungen sind ja namentlich in kulturgeschichtlichen Werken keine Seltenheit
geblieben, hatten aber auch in bedeutenderen kunstgeschichtlichen Werken, z. T. selbst
bei Kugler u. a., breiteren Raum gefunden! und die Reaktion dagegen, die auf
französischem Boden von Viollet-le-Duc und auf deutschen: von Ungewitter aus-
ging, war in ihren: Anlaß nicht unverständlich. Doch dürfen solche extreme
Anschauungen heut ja als überwunden gelten. Die Konstruktion hat besonders
im einzelnen ihre eigene Bedeutung. Mit der Unterlegung der Nippe unter das
Kreuzgewölbe oder mit der Verstärkung des Widerlagers gegen den stärkeren
Seitenschub hat eben die Phantasie nichts zu thun. Und dennoch — aus der
Konstruktion allein ist nicht das volle Verständnis für die Gesnmterscheinung
der gotischen Architektur zu gewinnen. Insonderheit für die kunstgeschichtliche
Bedeutung des Stils bleibt die Erkenntnis des geschichtlich bedingten Ursprungs
der bedeutendste Moment. Es wäre eine verdienstvolle Arbeit, das in: Zu-
sammenhang für die Gotik darzulegen. Die Umrisse dafür liegen beinahe klar
zu Tage.
Es ist viel darüber gehandelt, welchen Name:: man dem Wunderkind in
der Baukunst beilegen solle. Man sollte ihr ihren alten Rainen lassen. Die
Gotik wird, wie einst die Geusen, ihren Spottnamen mit Ehren durch die Ge-
schichte tragen. Freilich, wollte man sie ihren: Wesen nach nennen, dann wäre
die Bezeichnung als germanischer Stil die treffende. Nicht, als sollte bannt
einen: Ursprung auf deutschen: Boden das Wort geredet werden, ein Sinn, den
man fast ausnahmslos nut jenem Namen verbinden wollte. In den Verdacht
wird der Verfasser nach den obigen Darlegungen nicht kommen. Und doch ist
er geneigt, für die Erklärung dieser Stilerscheinung vorzüglich das ethnologische
Moment in Anspruch zu nehmen und den: des „Geistes der Zeit" erst eine
sekundäre Bedeutung beizumessen.
Es würde zu weit führen, zu diesen: Behuf hier die Unterschiede zwischen
romanischen: und germanischem Volkscharakter dnrzulegen. Das kann als fest-
stehend gelten, daß der eine von: fornmlistischen Prinzip beherrscht erscheint, der
andere die Tiefe des Gedankens nut der des Gemütes verbindet. Auf religiösen:
bildet der eine die Organisation aus, der andere den Materinlknnon; dort das
festgefügte System der nua 8auokn in seinem Ursprung, hier die Sorge für den
Heilsinhalt und -weg. In der Kunst dort Rafael, der den Ausdruck höchster
irdischer Schönheit in feiner Sirtina findet, hier Dürer, der in: Titelblatt der
großen Passion nut so schwachen äußeren Mitteln die ergreifendste Martergestalt
zeichnet, von der es in: höchsten Sinne heißt: Er hatte keine Gestalt noch Schöne;
dort das Auge an der Natur und ihrer Wahlordnung nut voller Befriedigung