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Stoß, Veit [Editor]; Chrzanowski, Tadeusz [Oth.]
Krakauer Marienaltar - Veit Stoss — Warszawa, 1985

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https://doi.org/10.11588/diglit.29774#0008
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EITALTER - POLEN - KRAKAU. Das Phanomen des spa-
ten Mittelalters ist trotz der ausgezeichneten Studie „Herbst
des Mittelalters”1 von Johan Huizinga weder hinreichend er-
forscht noch - was nur folgerichtig erscheint - vom Men-
schen von heute hinreichend begriffen worden. Der iiberwie-
gende Teil jener, die sich fur die Vergangenheit und ihre
Zeugnisse interessieren, nimmt hier nur Merkmale der Deka-
denz, des Ablebens und des Chaos wahr.

Das Problem ist - wie iibrigens bei jeder zur Neige gehen-
den Epoche, bei jedem Zeitalter, das einen bestimmten histo-
rischen Zyklus abschlieBt - tatsachlich schwierig und kompli-
ziert. Eben so verhielt es sich im 15. Jh., und das Bild wurde um so unklarer, je naher das
riickte, was unvermeidlich war: der Bruch mit dem Mittelalter.

Die Renaissance trug in ihrer italienischen Form nórdlich der Alpen verhaltnismaBig
leicht den Sieg davon, weil sie in eben diesem Augenblick des Brechens mit der alten Epoche
und des Beginns eines neuen Zeitalters dorthin gelangte. Wenn es diesen gewissermaBen
fertigen Vorschlag nicht gegeben hatte, wenn es nicht die antiken Quellen gegeben hatte, zu
denen man - wie zu einer wiederentdeckten Offenbarung - getrost zurtickkehren konnte,
hatte Europa eine andere Lósung finden miissen. Die Ansatze dafiir, eindeutig unabhangig
vom italienischen Rinascimento, bestanden sowohl in der Vollkommenheit der Architektur
jenes Ausgangs und Umbruchs ais auch in der - weitaus friiheren - herrlichen Malerei der
niederlandischen „alten Meister”.

Angesichts dessen ist zu fragen, ob der Zeitraum der Spatgotik tatsachlich eine „zur Neige
gehende Epoche” war (ob er also wirklich ein Bild des dem Winter vorausgehenden Herb-
stes, d.h. des Absterbens, war), oder ob er auch eine Epoche des intensiveren Suchens war. Es
fallt schwer, eine derart formulierte Frage zu beantworten. Vielleicht ist das iiberhaupt nicht
moglich, weil die Spatgotik sowohl Ausgang ais auch Suche zugleich war, weil sie das Fort-
bestehen der bisherigen Erfahrungen, aber auch das Hervorbringen neuer Vorschlage be-
deutete. Wenn uns der weitere Verlauf der Kunstgeschichte nicht bekannt ware, konnte man
kiihn behaupten, daB in diesem „Herbst des Mittelalters” noch alles moglich war. Das Alte
rang mit dem Neuen. Das tut es iibrigens stets, aber nur in bestimmten Augenblicken der
Geschichte nimmt dieser Kampf besonders zu. Und von einem der Helden dieses Kampfes
wird hier die Rede sein.

In der Kunstgeschichte sind die meisten heute verwendeten Epochen- und Stilbezeichnun-
gen ehemalige Schimpfnamen. Die Gotik war die „iible deutsche Kunst” (d.h. die Kunst der
Goten).2 Der Manierismus war ein Ausdruck der Dekadenz, die der Renaissance folgte.
Auch das Barock war nur ein Zerrspiegel der Renaissance. Akademismus, Eklektizismus und
Historismus sind erst in unserer Zeit rehabilitiert worden.

Trotz der vielseitigen Studien zum Mittelalter, die seit zwei Jahrhunderten entwickelt
worden sind, hat man jedoch erst vor verhaltnismaBig kurzer Zeit entdeckt, daB die Gotik
nicht nur kein stilistischer Monolith ist, sondern daB sie sich in zwei unterschiedliche, zeit-
weise geradezu gegensatzliche Phasen gliedert - in die Fruh- und Hochphase, die die Logik
in den Vordergrund riickte (bei der architektonischen Konstruktion und bei der Konstruk-
tion des Weltbildes), und in die Spatphase, in der diese Logik ins Wanken geriet, weil sie in
Routine erstarrte oder angefochten wurde, in jene Phase, in der Gefuhl, Phantasie und Illu-
mination den Platz der Konsequenz einnahmen und Zweifel und Suche an die Stelle von
Sicherheit und unveranderlicher Ordnung traten. Weiterhin bestanden bestimmte auBere, ins
Auge fallende Merkmale - Spitzbogen, Rippengewólbe, Strebesysteme und Verzierungen,
die reine Abstraktion (MaBwerk) mit prazisem Realismus verbanden (bauplastische
Menschengestalt, Flora und in gewissem Grade auch Fauna). Dennoch waren die Verande-
rungen gewaltig. In der Architektur verlor sich die Logik der Konstruktion und der raumli-
chen Hierarchie, in Malerei und Bildhauerei die Suche nach dem (in erster Linie geistigen)
Scbónheitsideal. Die der Zeit und des Raums enthobene Erhabenheit begann immer deutli-
cher der Beobachtung, dem Registrieren und schlieBlich der starken Expression zu weichen,
die die vermeintliche Weltordnung zerstórte.

Die Gelehrten stellten zu einem gewissen Zeitpunkt sogar die Frage, ob die Spatgotik
iiberhaupt noch Gotik sei, ob man sie nicht von der „Kathedralgotik” trennen und zu einer
gesonderten Stilformation erklaren solle; ahnlich wie man es bereits mit dem Manierismus

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