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Stoß, Veit [Hrsg.]; Chrzanowski, Tadeusz [Bearb.]
Krakauer Marienaltar - Veit Stoss — Warszawa, 1985

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https://doi.org/10.11588/diglit.29774#0027
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Was dagegen die Charaktereigenschaften und das Temperament des Kiinstlers anbetrifft,
so belegen einige Aufzeichnungen, daB er keineswegs nur „seltsam solide und fleiBig und
hilfsbereit” war. DaB er von einem gewóhnlichen Malergesellen verhóhnt und verleumdet
wurde, belastet hóchstens den Verleumder selbst. DaB der Hund von Meister StoB den
pelzgeftitterten Mantel des Btirgers Stanisław Cieśla zerrissen hat, verweist auf die Aggres-
sivitat des Hundes, doch nicht unbedingt des Besitzers. Aber die Klage des Klerikers Fabian
aus Zbąszyń, daB StoB ihn verpriigelt habe, zeugt davon, daB der Kiinstler von aufbrausen-
der Natur war und es liebte, selbst Gerechtigkeit zu iiben, was spater bei der Angelegenheit
mit Baner und Startzedel so katastrophale Folgen nach sich zog.

Veit StoB war ganz einfach ein Mensch, und menschlich war sein Charakter, sein Talent
und sein Herz. Er war ein Genie und ein Hitzkopf, er war der Patriarch eines kinderreichen
Geschlechts, das mehreren Landem ganze Generationen von Kiinstlern beschert hat, und er
war kleinlich. Er drang in die komplizierten Geheimnisse der Theologie ein und naherte sich
der Mystik, was zu jener Zeit durchaus keinen Widerspruch bedeutete. Er stand mit beiden
Beinen auf der Erde und war bemtiht, móglichst alles einzuheimsen, was sie ihm in seinem
langen Erdenleben zu bieten hatte. Nattirlich konnte er einem Schreiberling des Magistrats
ais Wirrkopf und Schreihals, ja sogar ais Irrer vorkommen, denn das machtige Pathos, das
seine in Holz gearbeiteten Figuren belebt, und der Wind, der ihre Gewander zaust, spiegeln
zugleich seine Persónlichkeit wider.

Der iiber ein halbes Jahrhundert jtingere Italiener Benvenuto Cellini, ein genialer Gold-
schmied, doch auch ein widerwartiger Prahlhans, Neidhammel und Raufbold, muBte nach
einem zweifachen Mord (hinzugeftigt sei zur Entschuldigung: „im Affekt veriibt”) Rom ver-
lassen, um dem Gerichtsurteil zu entgehen. Dennoch lieB ihm der Papst selbst seine Fiirsor-
ge angedeihen und erlaubte es ihm, nach einiger Zeit in die Ewige Stadt zuriickzukehren. Er
betrachtete Cellini unter einem etwas anderen Gesichtspunkt ais die Juristen - unter dem
Gesichtspunkt des kiinstlerischen Genius.

Ahnlich verhielt es sich mit Veit StoB, wenngleich sein Vergehen weitaus geringfiigiger
war. Fur ihn setzten sich Bischof Lorenz von Bibra und Kaiser Maximilian ein.

Man sollte das Leben von Kiinstlern nicht mythologisieren. Veit StoB war ein Mensch im
vollsten Sinne dieses Wortes. Er war ein hervorragender Kiinstler, dessen Fahigkeiten von
den Zeitgenossen vollauf gewiirdigt und anerkannt wurden, doch ein Mann, der manchmal
seinem ungestiimen Charakter freien Lauf lieB. Sein groBes Drama beruhte nicht darauf,
sondern darauf, daB er langer lebte ais seine Epoche. Er konnte die Renaissance nicht voll
begreifen und daher auch nicht akzeptieren. Er konnte die Reformation mit ihrer asketi-
schen Strenge auf dem Gebiet der Kunst nicht hinnehmen. Er lebte im vollen Glanz seines
Talents, starb aber in Yergessenheit.

ER MARIENALTAR. Wenn man das groBte Gotteshaus der
kóniglichen Ffauptstadt Krakau betritt und die ganze Basilika
ins Auge faBt, macht der Veit-StoB-Altar - sofern er geóffnet
ist - einen unvergeBlichen Eindruck. In diesem Kirchenraum
gibt es nie grelles Licht. Selbst an den sonnigsten Tagen sik-
kert es nur, gleichsam zitternd und gebrochen, durch die goti-
schen Kirchenfenster, zuruckgeworfen von den Gemalden
Matejkos, vom Gold des Barocks, bernsteinfarben, doch ge-
sttitzt auf das Blau des Flintergrunds. Eine Klammer, die das
Ganze zusammenhalt, bildet in diesem bernsteinfarben-blau-
en Licht das Polyptychon von Veit StoB, das aus der Ferne
wie eine emaillierte goldene Brosche aussieht, durch sein Gesprenge in den Dreitakt der
Fenstereinbezogen,diedas Presbyterium abschlieBen. Der im Regenbogen schwebendegroBe
Christus am Kreuz ist das hochste sichtbare Motiv unter dem Himmel der gotischen Gewolbe,
an denen ein anderer Meister, Jan Matejko, goldene Sterne angebracht hat.

Es scheint, daB der Altar in keiner anderen Kirche ein derart ausdrucksvolles Bindeglied
zwischen Menschen, Gott und Himmelreich darstellt wie dieser Veit-StoB-Altar in Krakau.
In der Danziger Marienkirche, die vor dem Krieg genauso reich mit Altaren, Skulpturen und

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