Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Clément, Charles; Clauß, Carl [Oth.]
Michelangelo, Leonardo, Raffael: mit 40 Holzschnitten und zwei lithographirten Tafeln — Leipzig: Verlag von E.A. Seemann, 1870

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.71514#0092
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
74

Michelangelo.

die That. Die vier Allegorien — die Aurora und der Abend, der Tag
und die Nacht — erinnern an den Wechsel der Zeiten und die Unbestän-
digkeit des Menschengeschicks. Die beiden Figuren des Giuliano und Lorenzo
sind sitzend dargestellt. Giuliano, jung, würdevoll und kühn, ist gerüstet, auf
seinen Knien liegt der Connnandostab. Lorenzo ist in tiefes Nachdenken
versunken; sein gedankenschweres Haupt wird vou der Hand gestützt; der
Finger an den Lippen scheint das Athmen zurückhalten zu wollen. Ist es
der Untergang von Florenz, den seine schwermüthigen, unergründlichen
Augen schauen? Was soll man über die Kraft und Majestät der Statue
des Tages, über die titauenhafte Schönheit jener der Nacht, die ernste
Anrnuth der Aurora sageu, welche voll Trauer in einer Welt der Schmerzen
erwacht? Die Sprache ist zu ohnmächtig, um die Gedankeu und Gefühle
wiederzugeben, welche die Kunst hier dargestellt hat; das Publiknm jedoch war
keinen Augenblick im Unklaren über die Bedeutung dieser Figuren; es nannte
die Statue des Lorenzo il Ususieroso. Die Gestalt der Nacht machte einen
so lebendigen und allgemeinen Eindruck, daß eine Menge Dichter sich be-
strebten sie zu feieru. Mau kenut die dem Strozzi zugeschriebenen Verse:
Oa iiotto, elis tu vsäi in si äoloi atti
Oormire, tu äa un ^nAsIn scolpita
In c^ussto Lasso: 6 xerolib äoime, lia vita,
Oestala, se no'I oreäi, e parleratti *).
Michelangelo antwortete durch folgende Verse, welche vielleicht die schönsten
find, die er gedichtet hat und welche zugleich von der Unruhe feiues Her-
zeus uud Geistes zeugeu, unter der dieses sein vollkommenstes plastisches
Werk erstanden ist.
Orato ini 6 il sonno e pin l'sssor äi sasso
Llonti'ö olio il äanno 6 la vsrAOAna äura,
I^on veclei' 'non sentir m'ä Aran vsntnra,
Oero non nii äestar, äelil xarla basso!**).
Die sechs Statuen, aus welchen diese beiden Grabmäler zusammen-
gesetzt sind, die wunderbare Madonna mit den beiden von seinen Schülern

*) „Die Nacht, die du so reizend hier schlummern siehst, ist von einem Engel in
Marmor gehauen worden. Sie schläft, sie hat Leben; wecke sie auf, wenn du es nicht
glauben willst, und sie wird reden." Engel, aiiAolo, bezieht sich in seinem Doppelsinne
mit auf des Künstlers Namen.

**) „Lieb ist der Schlaf mir, mehr noch, daß ich von Stein bin, während die
Schmach und die Schande bei uns dauern; nichts sehen, nichts hören ist das glücklichste
Schicksal; deshalb erwecke mich nicht, bitte, sprich leise."
 
Annotationen