Einleitmtg.
Religion scheint nur unduldsam. Sie ist so geduldig und widerspruchsvoll wie das
inenschliche Gemüt selbst, dessen Ausdruck sie ist. Alle die unzähligen Regungen, in
denen dieses sich selber und die umgebende bnld heitere, ba,id schreckhafte Welt zu be-
greifen sucht, wandelt sie zu Formen des Gefühls, begrifflicher Yernunft, ordnender Kunst.
Bei begabten Greschlechtern ringt sich dann die ursprüngliche Naivetät der erden-
schweren oder fröhlichen, der dtisteren oder sonnigen Emphndung für eine kurze Weile
zum allgemeingültigen harmonischen Ausdruck im Klassischen, und die einmal gefundene
glückliehe Formel scheint für lange Zeiten alle gärende, dunkle Ahnung abzutun.
So haben die griechischen Götterideale des fünften Jahrhunderts im großen Stil den
Drang zahlloser Generationen vollendet gefaßt und geben, weil alles noch so individueli
geschafFene klassische irn höchsten Sinn allgemein menschlich ist, das Errungene an alle
kommenden Jahrhunderte weiter.
Aber merkwürdig! In der nächsten Nachbarschaft der Olympischen erhält sich eine
scheinbar entgegengesetzte Welt. Dämonen in dunklen Höhlen, Schlangen in Schlupf-
winkeln gepdegt, ungestaltete Steine, Baumstumpfe. und.Unzähliges derart, und gewisser-
maßen nur als Übergang aus dieser fonnlosen, unmenschlichen Region zu der vollendeten
Kosmos', Dinge, wo Grestaltloses und Grestaltetes, Tierisches und Menschliches sich vereinigt.
Und nocli merkwürdiger: dieses zwitterlichtige, unförmliche Reich ist es, wo die meisten
Opfer geschehen, die heißesten Wünsche niedergelegt werden, woher das meiste empfangen
gewähnt wird.
Es ist wie Jahrhunderte später, wo nicht das berühmte aus Meisterhand hervor-
gegangene Bild der Schmerzensmutter, sondern das gedunkelte, kaum sichtbare, oder das
roh geschnitzte Bild von Blumen, von goldenen und wächsernen Herzen umrahmt prangt.
Der uralte GHaube ist unausrottbar. Er hat aus sich die höhere Vorstellung getrieben,
wie einen kostbaren Schößling zu wunderbarer Blüte. Aber daneben rankt das alte Oe-
schling wuchernd weiter. — Wovon das holie Bild, alles Unreine abstreifend, nichts mehr
weiß, vom gemeinen eigenen Ursprung, erzählt das plumpe Idol. Und es ist, als hafte ihm
noch der würzig satte Erdgeruch an, des Bodens, dem doch alle jene Bilder im letzten
Girunde entstammten, gewachsen in weltferne Grötterlüfte.
Curtius, die autike Herme.
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Religion scheint nur unduldsam. Sie ist so geduldig und widerspruchsvoll wie das
inenschliche Gemüt selbst, dessen Ausdruck sie ist. Alle die unzähligen Regungen, in
denen dieses sich selber und die umgebende bnld heitere, ba,id schreckhafte Welt zu be-
greifen sucht, wandelt sie zu Formen des Gefühls, begrifflicher Yernunft, ordnender Kunst.
Bei begabten Greschlechtern ringt sich dann die ursprüngliche Naivetät der erden-
schweren oder fröhlichen, der dtisteren oder sonnigen Emphndung für eine kurze Weile
zum allgemeingültigen harmonischen Ausdruck im Klassischen, und die einmal gefundene
glückliehe Formel scheint für lange Zeiten alle gärende, dunkle Ahnung abzutun.
So haben die griechischen Götterideale des fünften Jahrhunderts im großen Stil den
Drang zahlloser Generationen vollendet gefaßt und geben, weil alles noch so individueli
geschafFene klassische irn höchsten Sinn allgemein menschlich ist, das Errungene an alle
kommenden Jahrhunderte weiter.
Aber merkwürdig! In der nächsten Nachbarschaft der Olympischen erhält sich eine
scheinbar entgegengesetzte Welt. Dämonen in dunklen Höhlen, Schlangen in Schlupf-
winkeln gepdegt, ungestaltete Steine, Baumstumpfe. und.Unzähliges derart, und gewisser-
maßen nur als Übergang aus dieser fonnlosen, unmenschlichen Region zu der vollendeten
Kosmos', Dinge, wo Grestaltloses und Grestaltetes, Tierisches und Menschliches sich vereinigt.
Und nocli merkwürdiger: dieses zwitterlichtige, unförmliche Reich ist es, wo die meisten
Opfer geschehen, die heißesten Wünsche niedergelegt werden, woher das meiste empfangen
gewähnt wird.
Es ist wie Jahrhunderte später, wo nicht das berühmte aus Meisterhand hervor-
gegangene Bild der Schmerzensmutter, sondern das gedunkelte, kaum sichtbare, oder das
roh geschnitzte Bild von Blumen, von goldenen und wächsernen Herzen umrahmt prangt.
Der uralte GHaube ist unausrottbar. Er hat aus sich die höhere Vorstellung getrieben,
wie einen kostbaren Schößling zu wunderbarer Blüte. Aber daneben rankt das alte Oe-
schling wuchernd weiter. — Wovon das holie Bild, alles Unreine abstreifend, nichts mehr
weiß, vom gemeinen eigenen Ursprung, erzählt das plumpe Idol. Und es ist, als hafte ihm
noch der würzig satte Erdgeruch an, des Bodens, dem doch alle jene Bilder im letzten
Girunde entstammten, gewachsen in weltferne Grötterlüfte.
Curtius, die autike Herme.
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