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ERSTER ABSCHNITT

Die Wurzeln der mittelalterlichen Kunst
Die selbständige künstlerische Entwicklung diesseits der Alpen
hat mit der Übernahme des Erbes der Antike durch die Ger-
manen begonnen. Das ist geschehen zur Zeit Karls des Großen.
Karl selbst hat die Aufgabe, das geistige und weltliche Reich der
Römer erbtreu wieder zu erstellen und weiterzuführen, erkannt,
hat die Ehre und das Gelöbnis dieser großen Verpflichtung in
seinem Kaisertum bezeugt und hat, was mehr ist, jene Vereinung
von sich wandelndem Germanentum und verwandelter Antike, aus
der die mittelalterliche Kultur geboren worden ist und lebte, wesent-
lich gefördert und mitbewirkt.
Die Geschichte der selbständigen und besonderen künstlerischen
Entwicklung der Deutschen beginnt also nicht im urzeitlichen
Dämmer, sondern in heller Zeit und mit einem klaren Ereignis;
sie erhebt sich nicht langsam aus dumpfer Namenlosigkeit: an
ihrem Beginn steht ein großer Name, nicht eines Künstlers, son-
dern eines Herrschers, Karls des Großen.
Schon über tausend Jahre hindurch waren vor Karl germanische
Völker von den alten Kulturen und der Kunst des Orients und
Roms berührt, beeindruckt und beeinflußt (oder gar verschlungen)
worden, ehe aus der Berührung eine Verschmelzung wurde und die
Kultur und Kunst des Mittelalters eigentlich begann. Erst die
Vereinigung von germanischer Schöpferkraft mit antikem Geist
und antiker Form, bei der beide sich wandelten und wandeln muß-
ten, gab den Anstoß zur neuen Bewegung des abendländischen
Geistes. Will man sich das geschichtlich Plötzliche, die Bedeutung
und die Wirksamkeit des großen karolingischen Ereignisses klar ver-
gegenwärtigen, so überschaue man die letzten zweitausend Jahre des
germanischen Lebens, um deren Mitte etwa das Erbe der Antike
angetreten wurde: die vorkarolingischen tausend Jahre hindurch
beharrt die germanische Kultur, soweit wir sehen, auf primitiver
Stufe fast wandlungslos (wenn man von dem römischen Kolonisten-
tum absieht); das nachkarolingische Jahrtausend ist durchtost von
stürmischen Entwicklungen, Entfaltungen, Verwicklungen und Aus-
breitungen der Künste und Stile, von Revolutionen, Reaktionen
und von immer neuen Auseinandersetzungen mit der Antike und
 
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