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100 IV. Von Karl dem Großen bis zum Ende des romanischen Stiles

scheinlich der Naumburger Meister, jener größte deutsche Bildhauer,
der zuerst die französische Gotik voll verstand und überwand, und
dessen Werk die deutsche Klassik des Mittelalters bedeutet.
Viel wäre noch zu sagen. Diese Epoche ist so reich, daß die kurze Dar-
stellung, die ein Bändchen wie das vorliegende verlangt, nur das Aller-
wichtigste aufzeigen kann. Vor allem wäre noch hinzuweisen, wie
in dieser Zeit auch in Deutschland die Kunst gelernt hat, die dogmati-
schen und kultischen Anforderungen zu befriedigen. Die Darstellungen
der Emails des Klosterneuburger Altars geben eine vollständige Ver-
anschaulichung der Heilslehre: in vielen Szenen werden die Heilstat-
sachen repräsentiert; je drei Szenen besagen immer dasselbe in den
verschiedenen Weltzeiten: „ante legem“ (vor der mosaischen Gesetz-
gebung), „sub lege“ (unter dem Gesetz) und „sub gratia“ (unter der
Gnade, d. i. seit Christi Geburt). Im Ende des 12. Jhs. entstand die be-
deutendste theologisch-philosophische Bilderhandschrift des Mittelal-
ters, der Hortus deliciarum der Herrad von Landsberg, der Äbtissin
des Klosters Odilienberg im Elsaß, die leider nur in Nachzeich-
nungen erhalten ist.
Von der Buchmalerei dieser Zeit haben wir kaum gesprochen.
Auch sie gewinnt rings neues Leben. Zuerst am Rhein, besonders
am Mittelrhein. In Sachsen herrscht ein starker byzantinischer Ein-
fluß, wie auch in den andern Künsten. In Bayern entstehen die
mächtigen Bilder des Konrad von Scheyern (Abb. 55). Unsere Kennt-
nis der Malerei ist aber für diese Zeit nicht mehr allein auf die Buch-
malerei angewiesen, Wandgemälde sind erhalten, in Brauweiler, in
Köln, in Schwarzrheindorf und andernorts. Gar nicht haben wir vom
liturgischen Gerät gehandelt, gar nicht von den Teppichen, Stoffen,
Gewändern, Stickereien. Ein Beispiel mag wenigstens in der Abbil-
dung vorgeführt werden: ein Feld eines schlicht mit Ketten- und
Stilstich in weißem Leinen bestickten Altartuches aus einem Kloster
bei Fulda (Abb. 54). Die reine klare Zeichnung voll kultischen Ernstes
und einer antiken Harmonie zeigt deutlicher als alle Worte, wie die
deutsche Kunst das Erbe der Antike bis in späte Zeit bewahrte. Vor
einer solchen Stickerei begreift man die kultische Größe der mittel-
alterlichen Kunst: alles, selbst eine Altardecke, ist große heilige
Kunst, weil sie das Heilige, das verehrt wird, unmittelbar vergegen-
wärtigt. Alles ist bezogen auf die geistliche Wirklichkeit. Eben
darum kann man keinen Unterschied zwischen freier Kunst und
Kunstgewerbe im Mittelalter machen. Alle mittelalterliche Kunst
ist „angewandte“ Kunst und zugleich „große“ Kunst.
 
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