PROFESSOR MAX PECHSTEIN.
GEMÄLDE »ABENDGLAN/.«
WERTBEGRIFF DES GEGENSTÄNDLICHEN IN DER KUNST.
In der Bildnerei und in der Poesie der alten
Griechen sind der Mensch und der Gott die
anerkannt höchsten Vorwürfe für den Schaffen-
den. Im europäischen Mittelalter überwiegt die
Schätzung kirchlicher Sujets so sehr über die
profaner, daß die Profanmalerei überhaupt nur
einen einzigen Zweig, „das Porträt", ausbildet.
Noch Michelangelo nimmt dieses äußere Werte-
verhältnis für absolut. Er hat einmal, wörtlich
überliefert, zu Raf f ael im Gespräche über Andrea
del Sarto gesagt: „Es malt da in Florenz ein
Männchen (homocetto), der, wenn er in großen
Vorwürfen (inventioni) beschäftigt würde, Du-
den Schweiß auf die Stirne triebe (ti farä sudar
la fronte)." Diese ganz kleine Bemerkung des
großen Alten enthält eine ganze Summe von
Werterkennungen. Einmal zur Frage des For-
mats, dann zur Frage der Technik (er stellt das
vollfarbige Fresko über das Chiaroscuro, da
Andrea malte), zwei Einstellungen, die wir heute
kaum teilen, da wir wohl alle glauben, daß man
auf einer Tafel 20 zu 30 Zentimeter soviel sagen
kann, wie auf einer ganzen Wand, und daß ein
Künstler mit einer Radierung ebensoviel aus-
zudrücken vermag als mit der „höheren" Tech-
nik des Ölmalens. Fernerhin erkennt Michel-
angelo hier einen Wertebegriff an, wie er auch
heute noch umstritten ist, den des Stoffvolumens
und der Stoffart im Verhältnis zur Darstellungs-
kraft. Ein gutgemaltes Fresko mit fünfzig Figuren
wäre ihm wertiger erschienen als etwa ein
ebensogut gemalter Kopf. Wir haben diesen
Schätzungsbegriff heute noch in der Literatur,
und sprechen z. B. von einem Verfasser, der
zwar gute Novellen schreibt, aber dessen Stoff-
bewältigungskraft nicht zu einem Roman aus-
reicht, als geringer im Vergleich zu dem an-
erkannten Romanschreiber. Hierzu ist zu be-
merken, daß eine solche Schätzung nur eine
Teilwahrheit enthält, denn eine Novelle kann
ebensoviel Gehalt (Essenz), also faktisch den-
selben Kunstwert, oder genauer gesagt Werk-
GEMÄLDE »ABENDGLAN/.«
WERTBEGRIFF DES GEGENSTÄNDLICHEN IN DER KUNST.
In der Bildnerei und in der Poesie der alten
Griechen sind der Mensch und der Gott die
anerkannt höchsten Vorwürfe für den Schaffen-
den. Im europäischen Mittelalter überwiegt die
Schätzung kirchlicher Sujets so sehr über die
profaner, daß die Profanmalerei überhaupt nur
einen einzigen Zweig, „das Porträt", ausbildet.
Noch Michelangelo nimmt dieses äußere Werte-
verhältnis für absolut. Er hat einmal, wörtlich
überliefert, zu Raf f ael im Gespräche über Andrea
del Sarto gesagt: „Es malt da in Florenz ein
Männchen (homocetto), der, wenn er in großen
Vorwürfen (inventioni) beschäftigt würde, Du-
den Schweiß auf die Stirne triebe (ti farä sudar
la fronte)." Diese ganz kleine Bemerkung des
großen Alten enthält eine ganze Summe von
Werterkennungen. Einmal zur Frage des For-
mats, dann zur Frage der Technik (er stellt das
vollfarbige Fresko über das Chiaroscuro, da
Andrea malte), zwei Einstellungen, die wir heute
kaum teilen, da wir wohl alle glauben, daß man
auf einer Tafel 20 zu 30 Zentimeter soviel sagen
kann, wie auf einer ganzen Wand, und daß ein
Künstler mit einer Radierung ebensoviel aus-
zudrücken vermag als mit der „höheren" Tech-
nik des Ölmalens. Fernerhin erkennt Michel-
angelo hier einen Wertebegriff an, wie er auch
heute noch umstritten ist, den des Stoffvolumens
und der Stoffart im Verhältnis zur Darstellungs-
kraft. Ein gutgemaltes Fresko mit fünfzig Figuren
wäre ihm wertiger erschienen als etwa ein
ebensogut gemalter Kopf. Wir haben diesen
Schätzungsbegriff heute noch in der Literatur,
und sprechen z. B. von einem Verfasser, der
zwar gute Novellen schreibt, aber dessen Stoff-
bewältigungskraft nicht zu einem Roman aus-
reicht, als geringer im Vergleich zu dem an-
erkannten Romanschreiber. Hierzu ist zu be-
merken, daß eine solche Schätzung nur eine
Teilwahrheit enthält, denn eine Novelle kann
ebensoviel Gehalt (Essenz), also faktisch den-
selben Kunstwert, oder genauer gesagt Werk-