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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 56.1925

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Niebelschütz, Ernst von: Chinesische Mauern
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https://doi.org/10.11588/diglit.9179#0289

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Chinesische Mauern.

walther püttner—münchen. gemälde »stilleben i

zurückzubleiben. Sie beide gehen mit chine-
sischen Mauern bewehrt durchs Leben. Der
einzige Unterschied besteht nur darin, daß sie
die Mauer an verschiedenen Stellen tragen:
die einen auf der Zukunfts-, die andern auf der
Vergangenheitsfront.

Die Wirkung ist in beiden Fällen die gleiche,
nämlich ein fragmentarisches Menschentum, an
dessen Anblick man sich heute freilich schon
in einem Grade gewöhnt hat, daß die allein doch
erstrebenswerte Form des allseitig zugänglichen
und darum auch allseitig aktiven Geistes fast
schon dem Mythos angehört, jedenfalls nicht
mehr nach Verdienst geschätzt wird. Ich möchte
bezweifeln, ob Naturen von der Art Goethes
(vom Grade garnicht zu reden!) heute praktisch
noch möglich sind. Genauer gesprochen: Men-
schen, die bei jedem Schritt, den sie nach vorn
tun, einen dankbaren Blick in das Land ihrer
Jugend zurückwerfen, denen jede Erweiterung
ihrer Peripherie einen Zuwachs auch an zen-
tralen Kräften bringt. Mit dem bloßen Vor-
wärtsschreiten ist's nicht getan. Wem nicht auf
seinem Wege eine in jeder Beziehung reiche

Vergangenheit folgt, wer seiner Existenz nicht
Ballast zu geben versteht — Ballast nicht allein
an Wissen und Bildung, sondern vor allem an
Ehrfurcht und Dankbarkeit gegenüber Lehrern
und Erziehern in jedem Sinne — der wird das-
selbe Schicksal erleiden wie einst Napoleon bei
seinem Vorstoß auf Moskau: er scheitert an der
Schwäche seiner rückwärtigen Verbin-
dungen. Kein Geist ist reich genug, um den
unvermeidlichen Abgang an Kräften ganz aus
sich selber ergänzen zu können. Wer es den-
noch tut, hat kein Recht, sich über das Allein-
sein zu beschweren. Nicht der „Widerstand
der stumpfen Welt" ist schuld daran. Seine
eigene chinesische Mauer ist es, die ihn gegen
das Vergangene absperrt, er mag es merken
oder nicht. Geringschätzung des historisch Ge-
wordenen ist stets ein Zeichen intellektueller
Schwäche, ja geradezu der Barbarei. Es gilt
den Fluch, den Goethe den Teufel ausspre-
chen läßt: „Weh dir, daß du ein Enkel bist!" in
Segen zu verwandeln — wie Goethe selber
es in seinem Alter betätigt und an die hundert-
mal mit unvergeßlichen Worten bekräftigt hat. n.
 
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