12. Munch
91
schichte“ wird zu einem alten Bauern, der seinem Enkel von der
ewigen Wiederkehr des Gleichen, von Jahreszeiten und Jahresarbeit,
von Geburt und Tod erzählt. Die „Alma Mater“ ist eine von auf-
blühender Kinderschar umspielte Mutter. Und alle Lebensformen
und Lebenserscheinungen umfängt und trägt die eine gleiche nor-
wegische Natur. Die Geschlechter der Menschen kommen und gehen
und hinterlassen kaum eine Spur, aber die Natur ist ewig. In dem
Rundbilde des Menschendaseins, das Munch in den Ausbildern
gibt, haben die großen geistigen Kräfte, die Schicksal und Kunst
Europas seit Jahrtausenden bestimmt und durchdrungen haben,
keinen Platz, nicht Mythos, nicht Religion, nicht Geschichte, ob-
gleich doch der genius loci der Universität den Künstler gerade
auf diese Mächte hinweisen und ihn dazu herausfordern mußte,
etwa ihren Sieg über die Naturgewalten zum Thema zu wählen.
Aber Munchs Thema ist vielmehr der Sieg der Natur und die Rück-
kehr des Menschenlebens in ihren Schoß. Aus dem nordischen
Naturgefühle ist ein Naturevangelium geworden.
Wie Munchs Aulagemälde in der norwegischen Kunst den ersten
Versuch bilden die Vorstellungen vom Menschen und Menschen-
leben in ideale Form zu fassen, so sind sie auch als Schöpfungen
raumgestaltender Malerei in ihr neu. Dieser Aufgabe war die nor-
wegische Malerei, die sich ganz als Staffeleikunst entwickelt hatte,
bis dahin fremd geblieben. Sie wurde jetzt etwa gleichzeitig von
zwei Meistern in Anspruch genommen: außer von Munch auch von
Emanuel Vigeland (geb. 1875), einem erfindungsreichen, in deko-
rativen Arbeiten vielfach ausgezeichneten Künstler, der über eine
Formengebung von natürlichem Adel gebietet und das Kremato-
rium sowie die Vaalerengenkirche in Christiania ausgeschmückt
hat. In der Vaalerengenkirche wies ihn der Ort an Motive der
christlichen Überlieferung — Kreuzigung und Abendmahl —, aber
auch in der Form schließt er sich der Vergangenheit an: der Chor
der Kirche gibt im ganzen den Eindruck einer mit Fresken ge-
schmückten Kapelle des italienischen Quattrocentos. So vertritt
er Munch gegenüber die große europäische Tradition — wenn man
will: die Akademie. Munch hat das Problem der Beziehung seiner
Gemälde zum Raume in der Weise gelöst, daß er dessen einfache
91
schichte“ wird zu einem alten Bauern, der seinem Enkel von der
ewigen Wiederkehr des Gleichen, von Jahreszeiten und Jahresarbeit,
von Geburt und Tod erzählt. Die „Alma Mater“ ist eine von auf-
blühender Kinderschar umspielte Mutter. Und alle Lebensformen
und Lebenserscheinungen umfängt und trägt die eine gleiche nor-
wegische Natur. Die Geschlechter der Menschen kommen und gehen
und hinterlassen kaum eine Spur, aber die Natur ist ewig. In dem
Rundbilde des Menschendaseins, das Munch in den Ausbildern
gibt, haben die großen geistigen Kräfte, die Schicksal und Kunst
Europas seit Jahrtausenden bestimmt und durchdrungen haben,
keinen Platz, nicht Mythos, nicht Religion, nicht Geschichte, ob-
gleich doch der genius loci der Universität den Künstler gerade
auf diese Mächte hinweisen und ihn dazu herausfordern mußte,
etwa ihren Sieg über die Naturgewalten zum Thema zu wählen.
Aber Munchs Thema ist vielmehr der Sieg der Natur und die Rück-
kehr des Menschenlebens in ihren Schoß. Aus dem nordischen
Naturgefühle ist ein Naturevangelium geworden.
Wie Munchs Aulagemälde in der norwegischen Kunst den ersten
Versuch bilden die Vorstellungen vom Menschen und Menschen-
leben in ideale Form zu fassen, so sind sie auch als Schöpfungen
raumgestaltender Malerei in ihr neu. Dieser Aufgabe war die nor-
wegische Malerei, die sich ganz als Staffeleikunst entwickelt hatte,
bis dahin fremd geblieben. Sie wurde jetzt etwa gleichzeitig von
zwei Meistern in Anspruch genommen: außer von Munch auch von
Emanuel Vigeland (geb. 1875), einem erfindungsreichen, in deko-
rativen Arbeiten vielfach ausgezeichneten Künstler, der über eine
Formengebung von natürlichem Adel gebietet und das Kremato-
rium sowie die Vaalerengenkirche in Christiania ausgeschmückt
hat. In der Vaalerengenkirche wies ihn der Ort an Motive der
christlichen Überlieferung — Kreuzigung und Abendmahl —, aber
auch in der Form schließt er sich der Vergangenheit an: der Chor
der Kirche gibt im ganzen den Eindruck einer mit Fresken ge-
schmückten Kapelle des italienischen Quattrocentos. So vertritt
er Munch gegenüber die große europäische Tradition — wenn man
will: die Akademie. Munch hat das Problem der Beziehung seiner
Gemälde zum Raume in der Weise gelöst, daß er dessen einfache