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Molsdorf, Wilhelm; Heitz, Paul [Editor]
Einblattdrucke des fünfzehnten Jahrhunderts (Band 12): Die niederländische Holzschnitt-Passion Delbecq-Schreiber [Teil 1] — Straßburg, 1908

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https://doi.org/10.11588/diglit.21232#0016
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das oben angeführte deutsche Blockbuch wenigstens die
Vernehmung vor Kaiphas bringt. Man sieht also, daß die
Vorliebe der einzelnen Formschneider für dieses oder jenes
Ereignis der Leidensgeschichte hier eine nicht unwesent-
liche Rolle gespielt hat.

Daß sich die Holzschnittpassionen des 15. Jahrhun-
derts mit den in Kupfer gestochenen an künstlerischem
Werte nicht vergleichen lassen, wird niemandem, der die
Geschichte der graphischen Künste in dieser Periode ver-
folgt, auffallend erscheinen. Ein Leiden Christi, wie es
Martin Schongauer gestochen,1 sucht man vergebens unter
den gleichzeitigen Erzeugnissen der Xylographie, denn auch
unter den Passionsholzschnitten überwiegen die handwerks-
mäßigen Leistungen, die sich auf eine flüchtige Wieder-
gabe der Umrißlinien beschränken und das übrige der
Kolorierung überlassen. Aber es sind doch auch Aus-
nahmen zu verzeichnen, und zu ihnen gehören die Blätter,
die sich jetzt im Besitze des Herrn Professor W. L.
Schreiber in Potsdam befinden, in denen uns jedenfalls
die interessanteste und vielleicht auch die schönste Holz-
schnittpassion des 15. Jahrhunderts vorliegt.

Die Folge besteht aus zwanzig kolorierten Holz-
schnitten im Format von 88 : 66 mm;2 sie sind auf Blätter
aufgeklebt, deren Rückseiten Textfragmente eines lateini-
schen Andachtsbuches enthalten, das dem Charakter der
Schrift nach wahrscheinlich noch aus dem Ende des 15.
Jahrhunderts stammt. Die zu jener Zeit recht verbreitete
Sitte, Handschriften mit Erzeugnissen der graphischen
Künste an Stelle kostspieliger Miniaturen zu zieren, hat un-
sere Holzschnitte vor dem Untergange bewahrt, dem so viele
der losen Blätter anheimgefallen sind. Während jedoch in
der Regel solche Bilder erst hinterher von den Besitzern der
Bücher meist ziemlich wahllos, an gerade von der Schrift
frei gebliebenen Stellen angebracht wurden, hat der Schrei-
ber dieses Büchleins von vornherein auf die Einschaltung
der bereits vorliegenden Illustrationen Rücksicht genommen
durch Freilassung des erforderlichen Raumes. Es ist zwar
nicht von Belang, ob die einzelnen Holzschnitte sofort an
ihre Stelle eingeklebt wurden oder erst nach Beendigung
des Textes, doch können wir das letztere mit Sicherheit
annehmen, denn einmal hätte die vom Papier angezogene
Feuchtigkeit den Fortgang der Abschrift immer wieder
unterbrochen, und zum anderen spricht ein triftiger Grund
dafür, daß das Einfügen der Bilder erst mit der Rubri-
zierung des Andachtsbuches Hand in Hand ging. Es sind
nämlich um die Holzschnitte in Ranken auslaufende Ein-
fassungen 3 mit blauer und blaßroter Tinte gezogen, und

' Gute Reproduktion in: Kupferstiche und Holzschnitte alter Meister.
Berl. 1889 f.

2 Gemessen nach der inneren Einfassungslinie; auf einigen Blattern ist
auch noch eine zweite erhalten geblieben.

3 Solche der Miniaturmalerei entnommene Umrahmungen finden sich mehr-
fach bei Formschnitten; ein sehr ähnliches Rankenwerk zeigt eine Schrotblatt-
serie, die Bouchot: Les 200 Incunables xylographiques de la Bibliothequc
Nationale de Paris unter Nr. 6 wiedergibt, und es verdient Beachtung, daß sie
den Schmuck eines in v läm is eher Sprache geschricbcnenGebetbuches bildet-

zwar ist das Blau das nämliche, mit dem der Rubrikator
auch einen Teil der Versalien ausführte. Daß aber die
Rubrizierung, wie gewöhnlich, so auch in dem vorliegen-
den Falle erst am Schlüsse erfolgte, beweist u. a. ein in
einer Initiale noch sichtbares kleines 0, womit der Schrei-
ber dem Rubrikator in der üblichen Weise die Ausführ-
ung seiner Arbeit andeutete. Dagegen ist die Kolorierung
der Holzschnitte kaum von dieser Hand erfolgt, sie war
vermutlich schon ausgeführt, als die Blätter eingeklebt
wurden; wenigstens finden sich einige — wenn auch nur
schwache — Spuren von ausgelaufener Farbe, die das
Anfeuchten der Blätter mit Kleister verursacht haben dürfte.

Ueber den Inhalt und die Schicksale der Handschrift
ist nicht viel zu berichten, und das wenige, was wir dar-
über wissen, verdanken wir einigen Notizen aus dem Auk-
tionskatalog der Delbecq'schen Sammlung.1 Hiernach war
die Handschrift ein zu Ehren der h. Godoleva 2 angefertig-
tes Andachtsbuch, das außer der vorliegenden Bilderfolge
der Passion noch zahlreiche von anderer Hand herrührende
Holzschnitte und Kupferstiche enthielt 3 —zusammen vierzig
Blätter —, darunter auch eine Darstellung des Martyriums
der h. Godoleva zu Ghistelles in West-Flandern, und ein
Bild dieser Heiligen in Begleitung des h. Benedikt und der
h. Scholastika.

Als ältesten nachweisbaren Besitzer nennt der Katalog
den Universitätsbibliothekar van de Velde zu Löwen, in
dessen Sammlung sich eine Reihe durch die Revolutions-
stürme verschlagener Handschriften befunden haben soll;
aus seinem Nachlasse ging das Büchlein 1833 in den Be-
sitz des bekannten Genter Sammlers Delbecq* über, bei
dem es bis zu seinem 1840 erfolgten Tode verblieb. Leider
ist es dann um des Bilderschmuckes willen zerstört wor-

* Catalogue des estampes anciennes formant la collection de feu M. Del-
becq de Gand; red. p. M. M. Delandc et T. Thore. 3 parties. Paris 1845, —
Eine kurze Erwähnung unserer Passionsholzschnitte findet sich auch bei
J. Renouvier: Histoire de l'origine et des progres de la gravure dans les
Pays-Bas (in Memoires couronnös p. p. l'acad. royale de Belgique. Collection
in S". T. 10). Bruxelles 1860. S. 120. — Eine dürftige Nachbildung der Darstel-
lung Christi am Oelberge gibt die Histoire de l'imprimerie par P. Lacroix,
E. Fournier et F. Sere\ Paris 1852. S. 62 mit der kritiklosen Unterschrift
«Facsimilc d'unc planche tiröe d'un . . . livre d'office a l'usage du peuple i m-
prime avec des planches grav^es en bois dans les Pays-Bas vers 1440» [!].

» Vgl. J. E. Stadler: Vollständiges Heiligen-Lexikon. BJ. 2, S. 461.

3 Spuren von zwei kleineren, aufgeklebten Bildern finden sich auch auf
der unbeschriebenen Rückseite von Bl. 1 der Passion.

i Jean-Baptiste Delbecq, geb. 1771 zu Gent, gest. ebenda 1840 als Vor-
steher einer Unterrichtsanstalt, vereinigte mit dem lebhaften Interesse für
Kunst und Naturwissenschaften (er war einer der Gründer der Soci<5t<§ d'agri-
culturc et de botanique de Gand) einen außergewöhnlichen Sammeleifer, der
sich zwar auf Bücher und Altertümer im weitesten Sinne erstreckte, aber
den Besitz der ältesten Erzeugnisse der graphischen Künste bevorzugte.
Die Befriedigung dieser Neigung kostete ihm manche Entbehrung, und es
ist jedenfalls für seine Leidenschaft zum Sammeln charakteristisch, wenn
erzählt wird, er habe gelegentlich der Belagerung Gents (1S14) trotz der in
die Stadt einschlagenden Bomben sein Haus verlassen, um einer Kupferstich-
Auktion beizuwohnen. Obwohl die Versteigerung wegen mangelhafter Betei-
ligung nicht zustande kam, wartete er doch noch eine Stunde vor dem Auk-
tionslokal und wäre beinahe von einem Granatensplittcr getötet worden. Nach
seinem Ableben kam die mehr als 9000 Stücke zählende Sammlung mit Aus-
nahme der Holzschnitte und Kupferstiche in Gent unter den Hammer. Die
letzteren dagegen wurden nach Paris überführt und 1S45 daselbst versteigert.
(Vgl. Nouv. Biographie gäneYale. T. 13. Paris 1855. Sp. 410 f. und Biographic
nationale p. p. l'academie royale de Belgique. T. 5. Bruxelles 1876. Sp. 338f.)
— Ueber die Sammlungen Delbecqs berichtet auch Duchesne aine' in der
Voyagc d'un iconophile. Paris 1834. S. 320f., doch ohne unsere Passion zu er-
wähnen.

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