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Richter, Ludwig; Eckert, Karla
Die heilige Genoveva — Der Kunstbrief, Band 36: Berlin: Mann, 1946

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https://doi.org/10.11588/diglit.72964#0041
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Gott und die Natur hatten den Knaben mit besonderem Ver-
stand ausgerüstet, daß es vor der Zeit klug zu werden an-
fing und alles leicht begriff, was die Mutter ihm sagte. Nur
war es jammervoll anzusehen, wie das arme Kind zuletzt
ganz nackt und barfuß ging, denn die schlechten Tücher,
in welche die Mutter es von Kindheit an eingewickelt, waren
bald zerrissen, und auch die Stücke Tuch, welche die Mutter
von ihren eigenen Kleidern abschnitt, wurden bald zu Fetzen.
Am Ende kam es soweit, daß Mutter und Kind ihre Blöße
mit Moos und Zweigen decken mußten. Da erbarmte sich
Gott und sandte einen Wolf daher,
der die Haut eines zerrissenen
Schafes im Rachen trug und sie
dicht vor dem Kinde niederwarf.
Die Mutter nahm dieses Geschenk
mit großem Danke von Gott an,
trocknete die Haut und warf sie
Schmerzenreich um.
Von dieser Zeit fingen auch
die wilden Tiere an, zutraulich


gegen die Waldbewohnerin zu werden. Sie kamen täglich
vor die Höhle und spielten mit dem Kinde. Der Wolf, der
ihm das Schafsfell gebracht hatte, ließ den Knaben auf
sich reiten; und oft speiste der Kleine mitten unter den
Hasen und anderem Wild, das um ihn herumlief. Die Vögel
flogen ihm auf die Hand und auf das kleine Haupt und
erfreuten Mutter und Kind mit ihrem lieblichen Gesang.
Wenn das Kind ausging, Kräuter für die Mutter zu suchen,
so liefen verschiedene Tierchen mit ihm und zeigten ihm,
mit den Füßen scharrend, wo die besten Kräuter wären.
Die fromme Mutter hatte auch große Freude an dem Ge-
spräche des Knaben und verwunderte sich oft über seine
klugen Fragen und Antworten. Sie lehrte ihn auch das
Vaterunser und andere Gebete; niemals aber sagte sie ihm,
von welchem Geschlecht er geboren wäre, damit sie nicht
sein Leid noch vermehre oder die Weltlust in ihm erwecke.

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