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Richter, Ludwig; Eckert, Karla
Die heilige Genoveva — Der Kunstbrief, Band 36: Berlin: Mann, 1946

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https://doi.org/10.11588/diglit.72964#0045
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dem er seine Blumen geschenkt hatte, nach denen er im
Schlummer oft die Hände ausstreckte, weil ihn dünkte, er
erhielte sie von dem Mädchen wieder. Alles Liebe und Holde
entlehnte er von ihrem Bilde, alles Schöne, was er sah, trug
er zu ihrer Gestalt hinüber; wenn er von Engeln hörte,
glaubte er einen zu kennen und sich von ihm gekannt, er
war es überzeugt, daß die Feldblumen einst ein Erkennungs-
zeichen zwischen ihnen beiden sein würden.
Als er so deutlich wieder an alles dieses dachte, als ihm
einfiel, daß er es in so langer Zeit gänzlich vergessen hatte,
setzte er sich ins grüne Gras nieder und weinte; er drückte
sein heißes Gesicht an den Boden und küßte mit Zärtlichkeit
die Blumen, die dort standen. Er hörte in der Trunkenheit
wieder die Melodie des Waldhorns und konnte sich vor Weh-
mut, vor Schmerzen der Erinnerung und süßen ungewissen
Hoffnungen nicht fassen.
AUS: TIECK, DER BLONDE ECKBERT
So war ich ohngefähr vier Tage fortgewandert, als ich auf
einen kleinen Fußsteig geriet, der mich von der großen
Straße immer mehr entfernte. Die Felsen um mich her ge-
wannen jetzt eine andere, weit seltsamere Gestalt. Es waren
Klippen, so aufeinander gepackt, daß es den Anschein hatte,
als wenn sie der erste Windstoß durcheinanderwerfen würde.
Ich wußte nicht, ob ich weitergehen sollte. Ich hatte des
Nachts immer im Walde geschlafen, denn es war gerade zur
schönsten Jahreszeit, oder in abgelegenen Schäferhütten;
hier traf ich aber keine menschliche Wohnung und konnte
auch nicht vermuten, in dieser Wildnis auf eine zu stoßen;
die Felsen wurden immer furchtbarer, ich mußte oft dicht
an schwindlichten Abgründen vorbeigehen, und endlich hörte
sogar der Weg unter meinen Füßen auf. Ich war ganz trost-
los, ich weinte und schrie, und in den Felsentälern hallte
meine Stimme auf eine schreckliche Art zurück. Nun brach
die Nacht herein, und ich suchte mir eine Moosstelle aus,
um dort zu ruhen. Ich konnte nicht schlafen; in der Nacht

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