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Evers, Hans Gerhard; Bernini, Gian Lorenzo
Die Engelsbrücke in Rom von Giov. Lorenzo Bernini — Der Kunstbrief, Band 53: Berlin: Verlag Gebr. Mann, 1948

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https://doi.org/10.11588/diglit.61768#0038
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Die Annäherung an das Mittelalterlich-Gotische, die jeder
spürt, der diese Werke aufmerksam betrachtet, liegt nicht
nur in den überschlanken Proportionen und in der Auf-
trocknung des Körperlich-Sinnlichen. Sie liegt vor allem in
der Anordnung der plastischen Zeichnung, die an Holz-
schnittechnik erinnert, in der Klärung und Verteilung der
Ansichtsmöglichkeiten — das ist gotisch.
Denn die Barockplastik arbeitet im allgemeinen mit einer
plastischen Masse, die wie aus Wolke oder aus Watte oder
aus Ton gebildet zu sein scheint, jedenfalls aus einem
Material, das nach allen Seiten quellend empfunden wird.
Die gotische Plastik dagegen arbeitet mit einem plastischen
Material, das wie Holz gefasert ist, das lange und prismatisch
aneinandergesetzte Bahnen hat. Die gotische Plastik bildet
auf einzelnen Bahnen heraldische Motive aus und umstellt
mit ihnen die geistige Mitte des Bildwerks.
Wenn wir nun die Vorderansicht des Engels (Abb. 9) mit
dem Kreuzestitel ansehen: der Titel, der linke Unterarm,
die Schwungfedern des rechten Flügels, endlich der vom
rechten Oberschenkel aufschießende Gewandgrat bilden zu-
sammen ein auf der Spitze stehendes, gezogenes Viereck.
Innerhalb dieses Rhombus ist die Brustzone durch senk-
recht-flache Falten, die Hüft- und Bauchzone aber mit den
erwähnten „Harmonikafalten“ gekennzeichnet. Die Rich-
tung und Lage dieser Harmonikafalten entspricht den vier
Initialen auf dem Schriftband. Der freigearbeitete rechte
Unterschenkel, der entschieden zurückgeht, überkreuzt eine
Gruppe von Falten, die ebenso entschieden nach vorn
kommen. Der ganze Engel ist in ein hohes, schmales Dreieck
eingelassen, dessen obere Ecken die beiden Flügelgelenke,
und dessen untere Spitze das freie Gewandende unten bildet.
Wie zeichnen die Fluggelenke oben die Bewegungen des
Kopfes und der Arme nach! Diese Ansicht enthält so viel
zusammenstimmende, fast hörbare Melodie, daß man meint,
man stehe einem Relief, keiner Freiplastik gegenüber.
Dagegen brechen bei der Ansicht von der rechten Seite
(Abb. 8) aus diesem scheinbaren Relief die zackigen Winkel
vor, der spitze Ellbogen, das spitze Knie an dem herrlichen
nackten Bein, sogar die spitze Nase; aber schon entfalten
sich die entsprechenden und entgegenwirkenden Winkel und
Schwünge in dem Gewand und dem weichen Flügel. Nur in

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