Bernini vor der Pariser Akademie
(Tagebuch des Herrn von Chantelou, Samstag, 5. September 1665.
Übersetzung von Hans Rose)
Am Fünften arbeitete der Cavaliere wie gewöhnlich, und
abends besuchten wir die Akademie. Die Herren du Metz,
Nocret und Seve empfingen ihn am Straßenportal als Ver-
treter der Körperschaft. Der Cavaliere betrat zuerst den Akt-
saal, wo sämtliche Modelle die vorgeschriebene Pose an-
nahmen, und ging, ohne sich weiter aufzuhalten, in den
Sitzungssaal hinüber. Man bot ihm den Präsidentensessel an,
aber er dankte und wollte nicht Platz nehmen. Die Gesell-
schaft war zahlreich; sogar der Herr Stipendiatsrat Eliot
war erschienen. Der Cavaliere warf einen Blick auf die Ge-
mälde im Saal, die jedoch nicht als sonderlich talentvoll
galten, und betrachtete ein paar Reliefs aus der Bildhauer-
klasse. Dann trat er in die Mitte des Saales, richtete sich auf
und hielt vor versammelter Akademie folgende Ansprache:
„Wenn Sie meinen Rat hören wollen, meine Herren, dann
möchte ich der Akademie den Vorschlag machen, Gips-
abgüsse von sämtlichen schönen Antiken anzuschaffen:
Statuen, Reliefs und Büsten, damit die jungen Leute daran
lernen. Man läßt sie die antiken Modelle abzeichnen, um
ihnen zunächst die Idee des Schönen beizubringen, an die sie
sich dann ihr ganzes Leben halten können. Es hieße sie ver-
derben, wenn man sie von vornherein vor das Naturmodell
setzt. Die Natur ist fast immer matt und kleinlich, und wenn
die Vorstellung der Schüler nur von ihr genährt wird, werden
sie nie etwas wirklich Schönes und Großes schaffen können,
denn die natürliche Welt vermag das nicht zu bieten. Wer
nach der Natur arbeitet, muß schon sehr geschickt ihre
Schwächen zu erkennen und zu verbessern wissen, und eben
dazu sind die jungen Leute nicht befähigt, wenn man ihnen
keine feste Grundlage schafft. Ich will meine Überzeugung
mit einem Beispiel belegen. In der natürlichen Erscheinung
kommt es zuweilen vor, daß Partien erhaben sind, die flach
sein sollten, und andere umgekehrt flach sind, die erhaben
sein sollten. Wer nun vom Zeichnen den rechten Begriff hat,
läßt fort, was die Natur zwar bietet, aber nicht bieten sollte,
und verstärkt umgekehrt das, was da sein sollte und nicht
herauskommt. Und dazu — ich wiederhole es — sind junge
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(Tagebuch des Herrn von Chantelou, Samstag, 5. September 1665.
Übersetzung von Hans Rose)
Am Fünften arbeitete der Cavaliere wie gewöhnlich, und
abends besuchten wir die Akademie. Die Herren du Metz,
Nocret und Seve empfingen ihn am Straßenportal als Ver-
treter der Körperschaft. Der Cavaliere betrat zuerst den Akt-
saal, wo sämtliche Modelle die vorgeschriebene Pose an-
nahmen, und ging, ohne sich weiter aufzuhalten, in den
Sitzungssaal hinüber. Man bot ihm den Präsidentensessel an,
aber er dankte und wollte nicht Platz nehmen. Die Gesell-
schaft war zahlreich; sogar der Herr Stipendiatsrat Eliot
war erschienen. Der Cavaliere warf einen Blick auf die Ge-
mälde im Saal, die jedoch nicht als sonderlich talentvoll
galten, und betrachtete ein paar Reliefs aus der Bildhauer-
klasse. Dann trat er in die Mitte des Saales, richtete sich auf
und hielt vor versammelter Akademie folgende Ansprache:
„Wenn Sie meinen Rat hören wollen, meine Herren, dann
möchte ich der Akademie den Vorschlag machen, Gips-
abgüsse von sämtlichen schönen Antiken anzuschaffen:
Statuen, Reliefs und Büsten, damit die jungen Leute daran
lernen. Man läßt sie die antiken Modelle abzeichnen, um
ihnen zunächst die Idee des Schönen beizubringen, an die sie
sich dann ihr ganzes Leben halten können. Es hieße sie ver-
derben, wenn man sie von vornherein vor das Naturmodell
setzt. Die Natur ist fast immer matt und kleinlich, und wenn
die Vorstellung der Schüler nur von ihr genährt wird, werden
sie nie etwas wirklich Schönes und Großes schaffen können,
denn die natürliche Welt vermag das nicht zu bieten. Wer
nach der Natur arbeitet, muß schon sehr geschickt ihre
Schwächen zu erkennen und zu verbessern wissen, und eben
dazu sind die jungen Leute nicht befähigt, wenn man ihnen
keine feste Grundlage schafft. Ich will meine Überzeugung
mit einem Beispiel belegen. In der natürlichen Erscheinung
kommt es zuweilen vor, daß Partien erhaben sind, die flach
sein sollten, und andere umgekehrt flach sind, die erhaben
sein sollten. Wer nun vom Zeichnen den rechten Begriff hat,
läßt fort, was die Natur zwar bietet, aber nicht bieten sollte,
und verstärkt umgekehrt das, was da sein sollte und nicht
herauskommt. Und dazu — ich wiederhole es — sind junge
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