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Falke, Otto von; Lessing, Julius
Kunstgeschichte der Seidenweberei: eine Auswahl der vorzüglichsten Kunstschätze der Malerei, Sculptur und Architektur der norddeutschen Metropole, dargestellt in einer Reihe der ausgezeichnetsten Stahlstiche mit erläuterndem Texte (Band 1) — Berlin, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.19016#0055
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haupt für Gebilde mit einem nicht rapportierenden Muster, ist der mechanische Webstuhl
nicht geschaffen. Aus den antiken Schriftstellern ist über die Herstellungsart der babylo*
nica stromata genaues nicht zu ersehen; man hat an Stickerei, das heißt an Nadelmalerei
auf einem gewebten Grundstoff gedacht und für frei gemusterte Besätze, wie am Ornat
König Sanheribs, könnte das zutreffen. Für textile Bildwerke großer Abmessungen jedoch
war im Orient die Stickerei nicht gebräuchlich. Hierfür ist das ursprünglichste und zweck*
mäßigste Verfahren zu allen Zeiten die Wirkerei (Tapisserie) gewesen, die in Deutschland
nach den spätesten Erzeugnissen der Gattung Gobelinarbeit genannt wird.

Die Wirkerei (die mit der aus der Strickerei entstandenen modernen Maschinenwir*
kerei gar nichts gemein hat) ist als die älteste Art der Ornamentweberei im weitesten Sinn
anzusehen. Sie steht in ihrer primitiven Form, wie sie die groben kleinasiatischen Kilims
bis heute vorführen, der Flechtarbeit noch technisch nahe. Die Kettfäden sind auch hier
zwischen zwei wagrechten Walzen eingespannt, aber dem Wirkstuhl fehlt die verwickelte
Tritt= und Schafteinrichtung zur mechanischen, mustergerechten Teilung der Kettfäden, die
den Webstuhl zur Massenarbeit befähigt. Das Einwirken der farbigen Fäden, aus denen
sich das fertige Gebild zusammensetzt, ist von den einfachen Anfängen bis zum vollendet*
sten, mit der Malerei wetteifernden Wandteppich allzeit bloße Handarbeit geblieben. Den
durch die ganze Breite des Gewebes hin* und herlaufenden Schußfaden kennt die Wirkerei
im Prinzip nicht; es wird vielmehr jeder Schußfaden nur um so viel Kettfäden geschlungen,
als es die betreffende Farbe der Vorlage verlangt. Wo eine neue Farbe einsetzt, wird ein
neuer Schuß eingewirkt; mosaikartig setzt sich wie beim Knüpfteppich Farbe an Farbe. Der
Wirker braucht und kann nicht wie der Weber die ganze Breite seines Stückes zugleich be*
dienen; er arbeitet jeweils nur an einem kleinen Teil seines Bildes, oder es arbeiten mehrere
Wirker in die Breite gleichzeitig nebeneinander. Daher ist die Breite einer Wirkerei nicht
auf die Spannweite der menschlichen Arme beschränkt; nur durch die Länge des Ketten*
baums wird die Breite des Stückes begrenzt.

Während im wirklichen Gewebe Kette und Einschlag in regelmäßiger Fadenverkreu*
zung gemeinsam das Muster bilden, bleiben im gewirkten Bild allein die Schußfäden sieht?
bar; die Kette verschwindet, wie die Leinwand unter den Farben eines Gemäldes. In der
grundsätzlichen Einfachheit und durch keine mechanischen Vorrichtungen gebundenen
Freiheit der Wirkarbeit liegt ihre Stärke. Sie kann zwar nicht wie die Weberei ein Muster
in infinitum mechanisch vervielfältigen, sondern nur Einzelstücke liefern; aber dafür stehen
ihr, wie die Geschichte der europäischen Wirkteppiche gezeigt hat, die höchsten malerischen
Ziele der Textilkunst offen. Ihre natürliche Aufgabe ist die farbige Ausführung textiler
Bilder nach einem einheitlich für eine bestimmte Fläche geschaffenen Entwurf. Nicht immer
sind die Arbeitsgebiete der Wirkerei und der Weberei scharf getrennt geblieben; die letztere
hat schon im Mittelalter, wie wir sehen werden, sich zuweilen an abgepaßten Einzelstücken
versucht und von der Wirkerei sind wiederkehrende Webemuster — namentlich in der Spät*
gotik — öfter nachgeahmt worden. Doch das sind Ausnahmen; in der Regel geht jede Tech*
nik ihren eigenen Weg und hält sich an das, was sie allein schaffen kann: Bilder die Wir*
kerei, Rapportmuster die Weberei.

Es ist nirgends ausdrücklich überliefert, daß die Bildteppiche Vorderasiens Wirkereien
gewesen sind, denn die seltenen Schriftstellen, die überhaupt die Technik berühren, sind un*
klar und dunkel. Aber das ist doch zu bemerken, daß die stromata babylonica als Nadel*
arbeiten, was ja für die Wirkerei zutrifft, im Gegensatz zu den gewebten Stoffen bezeichnet
werden. In diesem Sinn kann eine oft angeführte Stelle Martials gedeutet werden: ,,Victa
est pectine niliaco jam babylonis acus." Der ägyptische Kamm, der die babylonische Nadel
überwunden hat, bedeutet das Werkzeug der alexandrinischen Weberei, deren mächtiger
Aufschwung in der frühen römischen Kaiserzeit mehrfach bezeugt wird. Auch Plinius führt

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