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Falke, Otto von; Lessing, Julius
Kunstgeschichte der Seidenweberei: eine Auswahl der vorzüglichsten Kunstschätze der Malerei, Sculptur und Architektur der norddeutschen Metropole, dargestellt in einer Reihe der ausgezeichnetsten Stahlstiche mit erläuterndem Texte (Band 1) — Berlin, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.19016#0166
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die Fremdherrschaft an Stelle einer stolzen und ruhmreichen Unabhängigkeit. Das Schisma
in der Lehre Muhammeds verschärfte frühzeitig die gegenseitige Abneigung. Das schiitische
Bekenntnis, dem die Perser fast allein als geschlossene Masse im ganzen Bereich des Islam
mit Eifer anhingen, war ihnen nicht bloß Glaubenssache, sondern ein Mittel, sich auch
religiös von den Arabern abzusondern. So vertiefte sich die Spaltung zwischen den während
des 8. Jahrhunderts noch im Kalifat vereinten und um die Führung ringenden Rivalen, bis
im Anfang des 9. Jahrh. auch das politische Band zerriß. Unter den Tahiriden (822—876)
stellte sich Nordpersien auf eigene Füße und dehnte sich unter den bis zum Ende des
10. Jahrh. herrschenden Samaniden bis an die Grenzen von China.

Damit verschob sich der Schwerpunkt iranischen Lebens nach Nordosten; Khorassan
jenseits der Salzwüste mit der Tahiridenresidenz Nischapur, die Städte Rey, Tus, Merw
und die transoxanische Samanidenhauptstadt Bokhara wurden die Pflanzstätten persischer
Wissenschaft und Dichtung. Die Übersetzungen griechischer und arabischer Schriftsteller,
das Auftreten persischer Gelehrten von Weltruf wie Avicenna zeugen für die Lebhaftigkeit
geistiger Tätigkeit um die Wende des ersten Jahrtausends. Das Verständnis dafür ist selbst
den von Nordosten her neu in die Gemeinschaft des Islam eintretenden Völkern barbae
rischer LIerkunft nicht fremd geblieben. Am Hof des Türkensultans Machmud von Ghazna
(997—1030), der das Samanidenreich mit Vorderindien vereinigte, vollendet Firdusi das
große Heldengedicht der Iranier. Machmud war der Vorläufer der Völkerwanderung, die
aus dem unerschöpflichen Barbarenbecken Innerasiens über das ostmuslimische Kulturge?
biet hereinbrach. In den Staaten, welche seit dem 11. Jahrh. die seldschukischen Türken in
Persien und in den Byzanz abgerungenen Teilen Kleinasiens begründeten, stand die isla*
mische Kunst noch immer auf achtbarer Höhe. Unverwindlichen Schaden für den ganzen
Osten brachten erst die Mongolenstürme des 13. und 14. Jahrhunderts, von deren Ver?
wüstungen sich Vorderasien nie wieder erholt hat. Aber was immer an Eroberern, Staaten*
gründern oder Zerstörern während des Mittelalters diese unglücklichen Länder durchzog oder
besiedelte, die eigentlichen Träger der Kunsttätigkeit sind hier allzeit die Iranier geblieben.

Persische Elemente haben auch in die westsarazenische Kunst reichlich Aufnahme ge*
funden. Grade in der Seidenweberei kann man ihnen am öftesten begegnen, weil die Stoffe
als Handelsware die Übertragung und Vermischung östlicher und westlicher Muster am
meisten gefördert haben. Trotzdem bietet das Vorherrschen des iranischen Gepräges in den
Erzeugnissen des Ostens eine brauchbare Handhabe, um den Bestand islamischer Seiden*
gewebe des hohen Mittelalters zunächst in zwei Hauptgruppen ostmuslimischer und west*
muslimischer Herkunft zu verteilen.

A. Ostmuslimische Seidenstoffe.
Die westpersische Gruppe.

An die Spitze der mittelalterlichen Gewebe Persiens gehören natürlich diejenigen
Denkmäler, die den erweislich sassanidischen Stoffen noch am ähnlichsten sind. Den aus
einer aragonischen Kirchestammenden Elephantenstoff in Berlin (Tafel 31 = Abb. 128) ') und
die damit aufs engste verwandte Hülle der Reliquien des heiligen Victor in Sens (Abb. 129)
habe ich nur deshalb nicht in die Sassanidengruppe aufgenommen, weil eine unmittelbare
Beglaubigung ihrer Entstehung vor der Mitte des 7. Jahrh. nicht zu erbringen war. In
ihrem Stil liegt sonst nichts, was eine Absonderung von den älteren persischen Stücken
notwendig machen würde. Julius Lessing hat zwar den Elephantenstoff byzantinisch
genannt, weil der berühmte und erheblich jüngere Elephantenstoff im Aachener Karlsschrein
(vgl. Abb. 241) laut Inschrift in Byzanz gewebt worden ist. Die vermeintliche Verwandt*

*) Ein zweites Stück ist abgebildet im Katalog Miquel y Badia T. 27 fig. 166.

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