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206

Der letzt

Motto: Der letzte Mensch wird ein Dichter sein.

J^^llmählich war es denn so gekommen, wie es hatte kommen
müssen nach der Voraussage der Gelehrten, sowie nach
\ den Naturgesetzen: im Jahre X tausend und ich weiß nicht
wie viel, war unser Erdball erkaltet, kein Fünkchen glomm mehr in
seinem Schooß und die Creaturen, soweit sie nicht der Polarfauna
angehörten, waren dahingeschwunden. Auch die Menschen. Nur
ein gewisser Eustachius Gänseklein lebte noch in Dingsda und in dem
Bewußtsein, daß er der Letzte seines Geschlechtes sei. Er war ein
Dichter.

Es wurde immer kalter auf der Erde. Der Centner Stein-
kohlen kostete 25 Mark und überdies gab es längst keine mehr.
Traurig saß Eustachius in seiner Dichterstube und hatte seine ganze
Wintergarderobe übereinander angezogen. Und dennoch fror ihn.
Alles Flüssige war längst um ihn zu Eis geworden — die Tinte,
der Gilka, der Kleister, das Petroleum. Die Schreibmaschine
funktionirte noch, und so tastete denn der letzte Dichter wacker auf ihr
herum. Er besang den Mond, der seit einem Jahrzent nicht mehr
schien, die Sonne, die äußerst abgekühlt und schäbig geworden

e Dichter.

war, den Frühling, den er nur aus uralten Bänden lyrischer Ge-
dichte kannte, die Nachtigall, obwohl er außer dem Schneehuhn und
der Eidergans nie einen Vogel gesehen hatte; er besang die Liebes-
glnth seiner Amanda, welche ein Jahr vorher schmerzlos erfroren
war, um in einem wärmeren Jenseits wieder aufzuthauen — er
besang noch einiges Andere, aber schließlich ging ihm der Stoff aus.
Eustachius fing wieder an zu trauern, bis er plötzlich aufsprang,
von einem beseligenden Gedanken ergriffen.

„Warum trauere ich denn? Wohl bin ich der Letzte meines
Stammes und meiner Profession — aber um so besser! Ich dichte
jetzt ohne Concurrenz — und ohne Kritik! Kein Barbar kann fürder
meine Werke als Wurstpapier verwenden, kein Verleger kann sie
mir zurückschicken mit oder ohne höfliches Bedauern! Wenn das Dichten
jemals auf der Welt ein Vergnügen war, so ist es jetzt eins!"

Und er setzt sich wieder an die Schreibmaschine — aber was
schreiben? Er fühlt, wie ihm nach und nach die Phantasie erfror.
Das Thermometer war seit einer Stunde von —115 Grad bis ans
—121 ‘/a Grad gesunken. Eustachius zermartert sein Gehirn und
schlägt sich an die Stirne. Es gab einen Hellen, scharfen Klang.

Eben schaute ein Eisbär zum Fenster herein, welcher ivohl in

dem Mann an der Schreibmaschine den letzten warmen Bissen zu
wittern glaubte, den es auf der Erde noch gab. Vielleicht war es
auch der letzte Eisbär. Eustachius aber hatte.den Stoff gefunden
für ein Feuilleton. Er schrieb einen Essay über die „Physiologie
des Eisbären." Die erkaltende Erde krachte unter den Füßen des
Dichters; er schrieb weiter. Das Thermometer sank auf —136 Grad;
er schrieb weiter. Immer zäher und schwerer ging die Schreib-
maschine und beim Schlußpunkt versagte sie ganz. Sie war auch
eingefroren wie alles Andere.

Aber das Feuilleton war fertig. Post oder Dienstmann gab
es natürlich nicht mehr, und Eustachius machte sich auf, das Manu-
skript selbst an seinen Bestimmungsort zu befördern. Trotzdem die
Kälte bereits beim Ulten Grad angelangt war, erglühte die Wange
des Dichters roth und röther. Heute sollte ihm kein Redakteur
mit höhnischem Gesicht sein Manuskript zurückgeben „wegen Mangel

an Raum." Raum gab's in Menge. Er konnte nun selbst sich
ins Redaktionsgebäude verfügen, selbst die Setzmaschine und die
Presse in Bewegung setzen, um sein erstes gedrucktes Geistes-
prodnkt in Händen zu halten.

Die Thüre zur Redaktion fand er geschlossen — ein Fußtritt
sprengte sie in Trümmer. Eustachius eilte durch den Vorraum in
den Setzersaal — triumphirend zog er das Manuskript ans der
Tasche —

Da packte ihn eine Hand — noch ein Mensch!

„Was wollen Sie mit dem Gesudel? Sprechen Sie!"

Gänseklein zitterte vor Kälte und Schrecken.

„Ja — bin ich denn nicht der letzte Mensch?"

„Stimmt", sagte der Andere mit satanischem Hohn, „Sie sind
der letzte Mensch und Dichter — ich aber bin der allerletzte Mensch
und Redakteur! Sie kommen zu früh, — sehen Sie her!"
Bildbeschreibung

Werk/Gegenstand/Objekt

Titel

Titel/Objekt
"Der letzte Dichter"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Grafik

Inschrift/Wasserzeichen

Aufbewahrung/Standort

Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES

Objektbeschreibung

Maß-/Formatangaben

Auflage/Druckzustand

Werktitel/Werkverzeichnis

Herstellung/Entstehung

Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Reinicke, Emil
Entstehungsdatum (normiert)
1894 - 1894
Entstehungsort (GND)
München

Auftrag

Publikation

Fund/Ausgrabung

Provenienz

Restaurierung

Sammlung Eingang

Ausstellung

Bearbeitung/Umgestaltung

Thema/Bildinhalt

Thema/Bildinhalt (GND)
Karikatur
Satirische Zeitschrift

Literaturangabe

Rechte am Objekt

Aufnahmen/Reproduktionen

Künstler/Urheber (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
Alle Rechte vorbehalten - Freier Zugang
Creditline
Fliegende Blätter, 101.1894, Nr. 2575, S. 206
 
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