Das Tafeltuch der Seligen.
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dem Sopha saß und neben sich das vermißte Tuch. Mit
der strengen Weisung, keinen Lärm zu machen, entließ Kronen
die Alte und ging bald nach ihr heim, sich selbst gelobend,
kein Mittel unversucht zu lassen, das geheimnißvolle Verschwin-
den des Tuches aufzuklären. Vergebens jedoch blieb all sein
Mühen. Eine dumpfe Stille herrschte im ganzen Hause, flü-
sternd ging es von Mund zu Mund: in der Christnacht sei
die Todte aus ihrem Grabe gestiegen und habe das große
Tischtuch geholt, ihr Lieblingsstück bei Lebzeiten. Der Graf
hielt es endlich für gut, mit seinen Kindern eine Reise anzu-
treten, um dieselben vor dem verderblichen Einfluß dieser
Spukgeschichte zu schützen.
Zwei Jahre waren schon vergangen und hatten die
von Kronen so sehnlich erwartete natürliche Lösung der Vor-
gänge in jener Christnacht nicht gebracht. Das Schloß war
noch nicht wieder von ihm bewohnt, aber von nah und fern
strömten Reisende herbei, das kostbare Marmordenkmal am
Grabe der Frau von Kronen zu sehen und die Spukgeschichte
zu vernehmen, welche der Kutscher mit den schönsten Ausschmück-
ungen zu erzählen verstand. Ein Talent, das ihm eine nicht
unerhebliche Einnahme an Trinkgeldern verschaffte.
Nun ereignete es sich, daß dieser Kutscher in den Stand
der heiligen Ehe treten wollte und zwar mit dem Haus-
mädchen aus dem Schlosse. Am Tage vor der Hochzeit ging
die Braut zum Prediger und legte ihm unter Thränen das
Geständniß ab, sie sei es gewesen, die vor zwei Jahren das
Tafeltuch entwendet; auf Befragen erzählte sic wie folgt:
Der Himmels-Pförtner.
„Um mir am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertages die
Arbeit leichter zu machen, wollte ich, nachdem der Graf und
die Kinder schon zu Bett waren, ausfcgcn in dem großen
Saal. Auf bloßen Füßen ging ich hinein, um den Herrn
nicht zu stören; beinahe vollendet war mein Thun als eine
Nußschaalc unter den Tisch fiel, ich wollte sie hervorlangen,
kam mit dem brennenden Lichte dem Tuch zu nah, und augen-
blicklich brannte der niedcrhängcnde Zipfel. Das Feuer war
schnell genug gelöscht, aber mich befiel eine entsetzliche Angst,
grade die Ecke mit dem Namenszuge war zerstört. Ich dachte
an nichts weiter, als das Unglückstuch zu entfernen, dieß ge-
lang meinen zitternden Händen nach großer Mühe. Jedes
Stück der Weihnachtsgabcn legte ich sorgfältig an seinen Platz
zurück und stieg mit dem Tuch aus dem Fenster, um es in
den Bach zu werfen, der war zugcfroren; ich wollte es nun
im tiefen Schnee in einer Ecke des Gartens verbergen,
wohin fast nie ein Mensch kam. Der Weg aber führte
an dem Grabhügel vorbei, da saß die gnädige Frau in ihrem
weißen Leichentuch und winkte mir gebieterisch mit der Hand.
Entsetzt ließ ich das Tuch fallen und floh nach meiner
Kammer; der Schreck und die Kälte hatten mich krank
gemacht. Der Prediger befahl ihr, zur Strafe für ihren
Leichtsinn und langes Schweigen, noch am Abend desselben
Tages, vor den versammelten Dienstboten des gräflichen Hauses,
das Bekenntniß ihres Fehlers zu wiederholen. So geschah es.
Als das Mädchen geendet hatte, trat ihr Bräutigam wüthcnd
auf sie zu und rief: „Dumme Marjell, kunnt sc nick, schwei-
gen! Keen Spuk — keenc Trinkgelder extra!" Der Schäfer
beruhigte den Zornigen mit dem Hinweis auf die Erschein-
ung am Grabe, daraus werde ein so gewandter Erzähler wie
der Kutscher schon etwas machen können. Da verzieh der in
seiner Einnahme Gekränkte großmüthig der Braut und am
nächsten Tage war Hochzeit. Graf Kronen aber schenkte der
Braut als Hochzeitsgabe: Das Tafeltuch der Seeligen.
Der Himmelspförtner.
Zweihundert Menschen ohngefähr
Aus vielen deutschen Gauen her,
Die schifften sich zu Mainz am Rhein
Nach Cöln zu einer Wallfahrt ein.
Der Zweck der Reise macht's schon klar,
Daß jeder fromm und christlich war,
Auch war die Mehrzahl noch zugleich
An edlen Geistesgaben reich.
Und doch war auf dem Schiff stets Streit
Oft um die kleinste Kleinigkeit,
Und doch legt der Verstand nie bei
Die hundertfält'ge Zänkerei;
Nur was ein frecher Franzmann sprach,
Dem kamen sie ganz willig nach,
Obwohl der anfgeblähtc Narr
Allein aus fremdem Lande war.
Dies Zanken that nicht lange gut,
Auf solcher Fahrt kein Segen ruht;
lö*
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dem Sopha saß und neben sich das vermißte Tuch. Mit
der strengen Weisung, keinen Lärm zu machen, entließ Kronen
die Alte und ging bald nach ihr heim, sich selbst gelobend,
kein Mittel unversucht zu lassen, das geheimnißvolle Verschwin-
den des Tuches aufzuklären. Vergebens jedoch blieb all sein
Mühen. Eine dumpfe Stille herrschte im ganzen Hause, flü-
sternd ging es von Mund zu Mund: in der Christnacht sei
die Todte aus ihrem Grabe gestiegen und habe das große
Tischtuch geholt, ihr Lieblingsstück bei Lebzeiten. Der Graf
hielt es endlich für gut, mit seinen Kindern eine Reise anzu-
treten, um dieselben vor dem verderblichen Einfluß dieser
Spukgeschichte zu schützen.
Zwei Jahre waren schon vergangen und hatten die
von Kronen so sehnlich erwartete natürliche Lösung der Vor-
gänge in jener Christnacht nicht gebracht. Das Schloß war
noch nicht wieder von ihm bewohnt, aber von nah und fern
strömten Reisende herbei, das kostbare Marmordenkmal am
Grabe der Frau von Kronen zu sehen und die Spukgeschichte
zu vernehmen, welche der Kutscher mit den schönsten Ausschmück-
ungen zu erzählen verstand. Ein Talent, das ihm eine nicht
unerhebliche Einnahme an Trinkgeldern verschaffte.
Nun ereignete es sich, daß dieser Kutscher in den Stand
der heiligen Ehe treten wollte und zwar mit dem Haus-
mädchen aus dem Schlosse. Am Tage vor der Hochzeit ging
die Braut zum Prediger und legte ihm unter Thränen das
Geständniß ab, sie sei es gewesen, die vor zwei Jahren das
Tafeltuch entwendet; auf Befragen erzählte sic wie folgt:
Der Himmels-Pförtner.
„Um mir am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertages die
Arbeit leichter zu machen, wollte ich, nachdem der Graf und
die Kinder schon zu Bett waren, ausfcgcn in dem großen
Saal. Auf bloßen Füßen ging ich hinein, um den Herrn
nicht zu stören; beinahe vollendet war mein Thun als eine
Nußschaalc unter den Tisch fiel, ich wollte sie hervorlangen,
kam mit dem brennenden Lichte dem Tuch zu nah, und augen-
blicklich brannte der niedcrhängcnde Zipfel. Das Feuer war
schnell genug gelöscht, aber mich befiel eine entsetzliche Angst,
grade die Ecke mit dem Namenszuge war zerstört. Ich dachte
an nichts weiter, als das Unglückstuch zu entfernen, dieß ge-
lang meinen zitternden Händen nach großer Mühe. Jedes
Stück der Weihnachtsgabcn legte ich sorgfältig an seinen Platz
zurück und stieg mit dem Tuch aus dem Fenster, um es in
den Bach zu werfen, der war zugcfroren; ich wollte es nun
im tiefen Schnee in einer Ecke des Gartens verbergen,
wohin fast nie ein Mensch kam. Der Weg aber führte
an dem Grabhügel vorbei, da saß die gnädige Frau in ihrem
weißen Leichentuch und winkte mir gebieterisch mit der Hand.
Entsetzt ließ ich das Tuch fallen und floh nach meiner
Kammer; der Schreck und die Kälte hatten mich krank
gemacht. Der Prediger befahl ihr, zur Strafe für ihren
Leichtsinn und langes Schweigen, noch am Abend desselben
Tages, vor den versammelten Dienstboten des gräflichen Hauses,
das Bekenntniß ihres Fehlers zu wiederholen. So geschah es.
Als das Mädchen geendet hatte, trat ihr Bräutigam wüthcnd
auf sie zu und rief: „Dumme Marjell, kunnt sc nick, schwei-
gen! Keen Spuk — keenc Trinkgelder extra!" Der Schäfer
beruhigte den Zornigen mit dem Hinweis auf die Erschein-
ung am Grabe, daraus werde ein so gewandter Erzähler wie
der Kutscher schon etwas machen können. Da verzieh der in
seiner Einnahme Gekränkte großmüthig der Braut und am
nächsten Tage war Hochzeit. Graf Kronen aber schenkte der
Braut als Hochzeitsgabe: Das Tafeltuch der Seeligen.
Der Himmelspförtner.
Zweihundert Menschen ohngefähr
Aus vielen deutschen Gauen her,
Die schifften sich zu Mainz am Rhein
Nach Cöln zu einer Wallfahrt ein.
Der Zweck der Reise macht's schon klar,
Daß jeder fromm und christlich war,
Auch war die Mehrzahl noch zugleich
An edlen Geistesgaben reich.
Und doch war auf dem Schiff stets Streit
Oft um die kleinste Kleinigkeit,
Und doch legt der Verstand nie bei
Die hundertfält'ge Zänkerei;
Nur was ein frecher Franzmann sprach,
Dem kamen sie ganz willig nach,
Obwohl der anfgeblähtc Narr
Allein aus fremdem Lande war.
Dies Zanken that nicht lange gut,
Auf solcher Fahrt kein Segen ruht;
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Das Tafeltuch der Seligen"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
Public Domain Mark 1.0
Creditline
Fliegende Blätter, 36.1862, Nr. 875, S. 115
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg