NATIONAL
UND INTERNATIONAL
THOMAS MANN
SIE fordern mich auf, Ihnen meine Gedanken über nationale und internationale
Kunst mitzuteilen. Ich gestehe, daß ich mich widerstrebend anschicke, Ihrem
Wunsche nach zu kommen, denn was Sie von mir erwarten, das ist zweifellos eine
charaktervolle und programmatische Stellungnahme für das eine oder das andre, das
Hochhalten einer Fahne, eine redlich patriotische oder hochherzig humanitäre Kund-
gebung, und damit kann ich nicht dienen. Nicht, daß ich zu kompliziert dazu wäre,
ich hüte mich vor einer so eitlen Entschuldigung. Aber ich habe immer gefunden,
daß im Punkte des Nationalen am Meinen, Reden und Fordern gar nichts, am Sein,
am Tun dagegen alles gelegen ist. Daß Goethe sich während der Freiheitskriege im
nationalen Sinne mangelhaft benahm, indem er zum Beispiel erklärte, er verdanke den
Franzosen einen zu großen Teil seiner Bildung, um sie hassen zu können, fällt gegen
seine gewaltige Deutschheit, seine ethnische Göttlichkeit federleicht ins Gewicht. Hat
man den Götz, den Faust, den Meister, die Sprüche in Reimen und Hermann und
Dorothea geschrieben, ein Gedicht, auf das A. W. Schlegel die heute unliterarische
Lobeserhebung vaterländisch anwandte, so kann man sich einige kosmopolitische Un-
zuverlässigkeit am Ende leisten: womit zugleich gesagt sein soll, daß ich es nicht für
ratsam halte, Goethes nationale Lauigkeit von 1813 mit dem Betragen gewisser deut-
scher Literaten zu verwechseln, die ums Jahr 1916 in Zürich saßen und Schmähartikel
dichteten. Denn ihre ganze Deutschheit bestand in ihrem freilich sehr deutschen Anti-
Deutschtum, und das war zuwenig. Aber auf Tolstoi möchte ich in diesem Zusammen-
hänge noch hin weisen, den Homer des national-russischen Kampfes gegen den Westen,
gegen Cäsar-Napoleon, auf den epischen Urrussen und russischen Urepiker, einen
Volksgott ebenfalls, den Genie gewordenen Muschik, und auf seinen Greisenpazifismus,
seinen rousseauischen Radikalismus, seine evangelische Menschlichkeit. Zur Entschul-
digung solcher Unstimmigkeiten pflegt man vorzubringen, Männer dieser Art seien
zu groß, um sich ins Nationale einschränken zu lassen, ihr Vaterland sei die Mensch-
heit. Sehr gut5 nur sollte man dabei nicht vergessen, daß Größe und paradigmatische
Volkhaftigkeit auch wieder in kausalem, in organischem Zusammenhänge stehen, und
daß ein großer Deutscher, ein großer Russe, ein großer Franzose allerdings der Mensch-
heit gehören, daß sie aber so groß nicht wären und also auch nicht der Menschheit
gehörten, wenn sie nicht in solchem Grade deutsch, französisch und russisch wären.
Man kann sagen, daß Goethe der größte Deutsche war, weil er der deutscheste war,
und der deutscheste, weil der größte.
6
UND INTERNATIONAL
THOMAS MANN
SIE fordern mich auf, Ihnen meine Gedanken über nationale und internationale
Kunst mitzuteilen. Ich gestehe, daß ich mich widerstrebend anschicke, Ihrem
Wunsche nach zu kommen, denn was Sie von mir erwarten, das ist zweifellos eine
charaktervolle und programmatische Stellungnahme für das eine oder das andre, das
Hochhalten einer Fahne, eine redlich patriotische oder hochherzig humanitäre Kund-
gebung, und damit kann ich nicht dienen. Nicht, daß ich zu kompliziert dazu wäre,
ich hüte mich vor einer so eitlen Entschuldigung. Aber ich habe immer gefunden,
daß im Punkte des Nationalen am Meinen, Reden und Fordern gar nichts, am Sein,
am Tun dagegen alles gelegen ist. Daß Goethe sich während der Freiheitskriege im
nationalen Sinne mangelhaft benahm, indem er zum Beispiel erklärte, er verdanke den
Franzosen einen zu großen Teil seiner Bildung, um sie hassen zu können, fällt gegen
seine gewaltige Deutschheit, seine ethnische Göttlichkeit federleicht ins Gewicht. Hat
man den Götz, den Faust, den Meister, die Sprüche in Reimen und Hermann und
Dorothea geschrieben, ein Gedicht, auf das A. W. Schlegel die heute unliterarische
Lobeserhebung vaterländisch anwandte, so kann man sich einige kosmopolitische Un-
zuverlässigkeit am Ende leisten: womit zugleich gesagt sein soll, daß ich es nicht für
ratsam halte, Goethes nationale Lauigkeit von 1813 mit dem Betragen gewisser deut-
scher Literaten zu verwechseln, die ums Jahr 1916 in Zürich saßen und Schmähartikel
dichteten. Denn ihre ganze Deutschheit bestand in ihrem freilich sehr deutschen Anti-
Deutschtum, und das war zuwenig. Aber auf Tolstoi möchte ich in diesem Zusammen-
hänge noch hin weisen, den Homer des national-russischen Kampfes gegen den Westen,
gegen Cäsar-Napoleon, auf den epischen Urrussen und russischen Urepiker, einen
Volksgott ebenfalls, den Genie gewordenen Muschik, und auf seinen Greisenpazifismus,
seinen rousseauischen Radikalismus, seine evangelische Menschlichkeit. Zur Entschul-
digung solcher Unstimmigkeiten pflegt man vorzubringen, Männer dieser Art seien
zu groß, um sich ins Nationale einschränken zu lassen, ihr Vaterland sei die Mensch-
heit. Sehr gut5 nur sollte man dabei nicht vergessen, daß Größe und paradigmatische
Volkhaftigkeit auch wieder in kausalem, in organischem Zusammenhänge stehen, und
daß ein großer Deutscher, ein großer Russe, ein großer Franzose allerdings der Mensch-
heit gehören, daß sie aber so groß nicht wären und also auch nicht der Menschheit
gehörten, wenn sie nicht in solchem Grade deutsch, französisch und russisch wären.
Man kann sagen, daß Goethe der größte Deutsche war, weil er der deutscheste war,
und der deutscheste, weil der größte.
6