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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 4,1.1924

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Strindberg, August; Schering, Emil [Hrsg.]: Strindberg nach sechzig Jahren
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https://doi.org/10.11588/diglit.42396#0031
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STRINDBERG
NACH SECHZIG JAHREN
AUS DEM NACHLASSE ÜBERTRAGEN VON
EMIL SCHERING
Als Strindberg 60 Jahre alt wurde, am 22. Januar 1909, richtete die Redaktion von „Bombers Monats-
heften“ eine Reihe Fragen an den Dichter, die dieser so intensiv beantwortete, daß er uns ein wertvolles
Selbstbekenntnis bescherte. Mit allem Nachdruck muß betont werden: nur aus seinen eigenen Schriften lernen
wir den Dichter wirklich kennen! Was über ihn geschrieben wurde, ist stets charakteristischer für den Ver-
fasser als für Strindberg. Mit besonderer Vorsicht sind die „Erinnerungen“ an Strindberg zu genießen; bis-
her sind nur zwei erschienen, die Wert haben: Schleich, Strindberg in Berlin; Fanny Falkner, Strindberg im
Blauen Turm.

Erste F rage
Welcher war der stärkste Eindruck in Ihrer Kindheit?
ALLES, was ich als Kind erlebte, machte starken Eindruck auf mich, denn ich war
überempfindlich, sowohl für eigene wie für fremde Leiden. Man wagte zum
Beispiel die kleinen Geschwister nicht zu züchtigen, wenn ich es hörte oder sah:
ich hätte mich nämlich dazwischen geworfen und die Henker erwürgt. Unbilden und
Ungerechtigkeiten kränkten mich so, daß ich mir mit sieben oder acht Jahren das Leben
nehmen wollte. Ich weinte über alles und bekam einen häßlichen Namen dafür• weinte
oft, „nur, um zu weinen“, oder aus Schmerz, geboren zu sein, vielleicht mein furcht-
bares Schicksal ahnend.
Wahrheitsliebe und Gerechtigkeitsgefühl waren mir angeboren; aber man nannte
mich neidisch, wenn ich es mißbilligte, daß jemand von geringerem Verdienst mir
vorgezogen wurde; man nannte mich rachgierig, wenn ich nicht jede Unbill sofort
vergaß, während die andern mir nie verziehen. Um eine Richtschnur für meine eigene
Handlungsweise zu finden, richtete ich ein scharfes Auge auf die andern. Was andere
sich erlaubten, sei auch mir erlaubt, glaubte ich. So verhielt es sich aber nicht: man
war immer strenger gegen mich. Ich war allerdings nicht fehlerfrei; ich log einige
Male aus Furcht, aus Feigheit, aus Scham; litt aber solche Gewissensqual, daß ich es
nicht gern wieder tat. Zu meiner ersten größeren Lüge wurde ich gezwungen, durch
Marter, da ich die Schuld eines andern auf mich nehmen mußte. Aber einmal sagte
ich etwas Unwahres, nur aus satanischer Laune oder Eingebung, die ich nicht erklären
kann. Ich stahl ja auch Obst (der Apfelbaum spukt); aber, merkwürdig, der Angeber
war mein Mitschuldiger; und noch unerklärlicher, ich zeigte ihn nicht an, um die
Schuld von mir zu schieben. Warum ich’s nicht tat, weiß ich nicht, denn so besonders
edelmütig war ich gerade nicht. Vielleicht schämte ich mich für den Angeber, denn
ich fand seine Handlung recht kleinlich, da er ebenfalls Obst gestohlen hatte. Als meine
Mutter mich schalt und von Gericht und Polizei sprach, wurde ich vor Entsetzen

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