Allgemein gesprochen gibt es den reinen, den absoluten Kosmopolitismus nicht. Ein
solcher wäre ohne Substanz, Geist ohne Fleisch, und also kein Leben. Das humanitäre
Franzosentum stammt aus der Revolution und ist höchst national akzentuiert. Sinn
und Geist des französischen Europäertums wurde noch kürzlich wieder durch einen
der feinsten Geister des Landes, Andre Suares, mit der Äußerung gekennzeichnet, daß
„es ein Europa nur geben könne, wenn der Genius Frankreichs am Ruder bleibe“.
Der kosmopolitische Zivilisationsgedanke Englands ist mit der Vorstellung des „British
empire“, politisch-kultureller Weltkontrolle untrennbar verbunden, und aller Opti-
mismus knüpft sich hier an die frohe Botschaft, daß „the world is rapidly hecoming
english“. Die russische Allmenschlichkeit geht ins Slawophilentum und damit ins
National-Imperiale ohne Grenzen über. Man wird sich nicht vorurteilsvoll nennen
lassen müssen, wenn man ausspricht, daß der Kosmopolitismus des politisch unbe-
gabtesten Volkes, des deutschen, der reinste, geistigste, unschuldigste, argloseste ist und
es zu allen Zeiten war: schon im Mittelalter wurde der hierarchische Kosmopolitismus
bei uns weitaus am ernstesten genommen, was eine ständige Gefährdung des staat-
lichen Lebens bedeutete. Auf der Höhe des Deutschtums findet sich der Begriff des
Nationalen derart vergeistigt, abstrakt gemacht und vom Geographisch-Politischen ge-
löst, daß Novalis sagen konnte, Deutsche gäbe es überall; Germanität sei sowenig wie
Gräzität, Romanität oder Britannität auf einen besonderen Staat eingeschränkt; es
seien allgemeine Menschencharaktere, die nur hier und da vorzüglich allgemein ge-
worden seien. Deutschheit sei echte Popularität und darum ein Ideal. Eine schönere
und frommere Bestimmung ist keinem nationalen Wesen je zuteil geworden.
Und doch war ursprünglich auch bei uns der Kulturgedanke mit dem der Macht ver-
bunden, und in der sublimen Sphäre des Verfassers von „Die Christenheit oder Europa“
hing man mit Liebe der deutschen Idee eines kosmopolitischen Friedensimperiums,
dem alten Traum vom Heiligen Römischen Reiche, an. Wenn Kosmopolitismus etwas
spezifisch Deutsches ist und die Begriffe „deutsch“ und „kosmopolitisch“ sich auf be-
sonders organische und natürliche Art verbinden; wenn man kaum ein rechter
Deutscher sein kann, ohne Kosmopolit zu sein und der deutsche Bildungsbegriff sich
mit dem kosmopolitischer Beweglichkeit fast völlig deckt: ist nicht diese historische
Erinnerung und Gefühlsüberlieferung dabei im Spiel, und ist nicht wahrscheinlich der
Kulturgedanke einer „Weltliteratur“, den Goethe verkündete, geistig auf sie zurück-
zuführen? „Wer die deutsche Sprache versteht und studiert“, sagt er, „befindet sich
auf dem Markte, wo alle Nationen ihre Waren anbieten; er spielt den Dolmetscher,
indem er sich selbst bereichert.“ Mit solchen Äußerungen ist Goethes eigenem Volke
im weltliterarischen Kulturgetriebe bereits eine ausgezeichnet ehrenvolle Rolle zu-
geteilt. Aber schon im „Meister“ hat er ja gemeint, daß „der intellektuelle Schwer-
punkt unter der deutschen Nation liege“ — und so darf es nicht überraschen, daß
Goethe, über den weitherzigen Gedanken seines Alters plaudernd, plötzlich von natio-
naler, um nicht zu sagen: nationalistischer Besorgnis befallen wird und in die Worte
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solcher wäre ohne Substanz, Geist ohne Fleisch, und also kein Leben. Das humanitäre
Franzosentum stammt aus der Revolution und ist höchst national akzentuiert. Sinn
und Geist des französischen Europäertums wurde noch kürzlich wieder durch einen
der feinsten Geister des Landes, Andre Suares, mit der Äußerung gekennzeichnet, daß
„es ein Europa nur geben könne, wenn der Genius Frankreichs am Ruder bleibe“.
Der kosmopolitische Zivilisationsgedanke Englands ist mit der Vorstellung des „British
empire“, politisch-kultureller Weltkontrolle untrennbar verbunden, und aller Opti-
mismus knüpft sich hier an die frohe Botschaft, daß „the world is rapidly hecoming
english“. Die russische Allmenschlichkeit geht ins Slawophilentum und damit ins
National-Imperiale ohne Grenzen über. Man wird sich nicht vorurteilsvoll nennen
lassen müssen, wenn man ausspricht, daß der Kosmopolitismus des politisch unbe-
gabtesten Volkes, des deutschen, der reinste, geistigste, unschuldigste, argloseste ist und
es zu allen Zeiten war: schon im Mittelalter wurde der hierarchische Kosmopolitismus
bei uns weitaus am ernstesten genommen, was eine ständige Gefährdung des staat-
lichen Lebens bedeutete. Auf der Höhe des Deutschtums findet sich der Begriff des
Nationalen derart vergeistigt, abstrakt gemacht und vom Geographisch-Politischen ge-
löst, daß Novalis sagen konnte, Deutsche gäbe es überall; Germanität sei sowenig wie
Gräzität, Romanität oder Britannität auf einen besonderen Staat eingeschränkt; es
seien allgemeine Menschencharaktere, die nur hier und da vorzüglich allgemein ge-
worden seien. Deutschheit sei echte Popularität und darum ein Ideal. Eine schönere
und frommere Bestimmung ist keinem nationalen Wesen je zuteil geworden.
Und doch war ursprünglich auch bei uns der Kulturgedanke mit dem der Macht ver-
bunden, und in der sublimen Sphäre des Verfassers von „Die Christenheit oder Europa“
hing man mit Liebe der deutschen Idee eines kosmopolitischen Friedensimperiums,
dem alten Traum vom Heiligen Römischen Reiche, an. Wenn Kosmopolitismus etwas
spezifisch Deutsches ist und die Begriffe „deutsch“ und „kosmopolitisch“ sich auf be-
sonders organische und natürliche Art verbinden; wenn man kaum ein rechter
Deutscher sein kann, ohne Kosmopolit zu sein und der deutsche Bildungsbegriff sich
mit dem kosmopolitischer Beweglichkeit fast völlig deckt: ist nicht diese historische
Erinnerung und Gefühlsüberlieferung dabei im Spiel, und ist nicht wahrscheinlich der
Kulturgedanke einer „Weltliteratur“, den Goethe verkündete, geistig auf sie zurück-
zuführen? „Wer die deutsche Sprache versteht und studiert“, sagt er, „befindet sich
auf dem Markte, wo alle Nationen ihre Waren anbieten; er spielt den Dolmetscher,
indem er sich selbst bereichert.“ Mit solchen Äußerungen ist Goethes eigenem Volke
im weltliterarischen Kulturgetriebe bereits eine ausgezeichnet ehrenvolle Rolle zu-
geteilt. Aber schon im „Meister“ hat er ja gemeint, daß „der intellektuelle Schwer-
punkt unter der deutschen Nation liege“ — und so darf es nicht überraschen, daß
Goethe, über den weitherzigen Gedanken seines Alters plaudernd, plötzlich von natio-
naler, um nicht zu sagen: nationalistischer Besorgnis befallen wird und in die Worte
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