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Baumgarten, Die Wasserspeier am Freiburger Münster

Abb. 18. Laon. Eglise Notre Dame.

Wenn es möglich wäre, ihnen photographisch besser
beizukommen, so würden sie in unsern Handbüchern
unter den Meisterwerken gotischer Bildhauerkunst
einen Ehrenplatz behaupten. Inhaltlich dominieren
die menschlichen Bildungen vor den tierischen. Wir
haben es teils mit Menschheitstypen, teils mit poeti-
schen Gestaltungen zu tun; dazwischen sitzen tierische
Speier von großer Naturwahrheit und ein Phantasie-
löwe mit Menschenhaupt. Einen Zusammenhang in
diese buntgemischte Gesellschaft zu bringen, dürfte
vergebliches Bemühen sein. Ebenso scheint jegliche
symbolische oder lehrhafte Deutung völlig aus-
geschlossen. Der Humor ist in diesen strengen,
klassischen Gebilden so gut wie ganz zurückgedrängt.

Speier bei < * (Abb. S. 16).

Knieender Mann, die schönen Hände auf die Knie ge-
stemmt. Er scheint eine Kapuze und Pelerine zu tragen.

Untere Reihe (Abb. S. 16 f.).

An der SO-Ecke. Langgewandeter, knieender König (vgl.
die Reste der Krone, besonders gut von oben sichtbar). Unter-
gesicht und Vorderarme sind abgeschlagen. Der Wasserkanal
lief nicht durch den Mund, sondern über die linke Schulter
(vgl. die Chorspeier U—W).

An der NO-Ecke. Knieende Frau, Hals stark umhüllt, wie
das auch bei französischen Speiern beliebt ist (Abb. 18), um das
Abbrechen zu erschweren: trotzdem musste der Kopf durch
Eisen nachträglich befestigt werden. Aus gutgearbeiteter Hals-
krause schaut das junge Gesicht heraus. Auf dem Kopf trägt
die Frau ein hohes, spitzes Hütchen, wie sie im 14. Jahrhundert
als französische Modetracht aufkamen und Hennin hießen. Viel-
leicht eine Königin, das Gemahl des vorigen?

An der NW- Ecke. Löwe von eminenter Feinheit. Kopf
und linke, vorgestreckte Vordertatze beschädigt.

Der an der SW-Ecke ist schon lange abgängig.

Obere Reihe (Abb. S. 17 f.).

Auf der O-Seite ist nur ein Speier, da die Treppenschnecke
die Anbringung eines zweiten hier unmöglich machte. Lang-
gewandeter, bartloser, kurzgeschorener Mann, mit großen, mar-
kanten Zügen, in hockender Stellung. Er hält etwas wie ein
Gefäß, das von einem Tuch überdeckt scheint. Die linke Hand
ist unter dem Gefäß, die Rechte ruht oben darauf: ein Priester
mit dem Allerheiligsten?

Auf der S-Seite ist der östliche Speier seit langer Zeit
weggebrochen.

Der westliche stellt einen Gewappneten dar in Topfhelm
und Stirnhaube mit Nacken- und Halsschutz aus Kettengeflecht;
statt der Brünne trägt er ein Kettenhemd, auf den Schultern
eiserne Schulterflügel, an den Unterarmen Lederstulpen, über
dem Kettenhemd einen langen Waffenrock. Er hockt übereck
wie der Priester und hat die Hände auf die Kniee gestützt.

Auf der XW-Seite stellt der südliche Speier einen bartlosen
Mann mit Kapuze und langer Gewandung dar. Das linke Knie
ist gegen die Turmwand gestemmt; das rechte, aus dem Ge-
wand heraustretende Bein ist im Knie gebogen. Mit der Linken
hält er einen Schnurösenkrug von kürbisähnlicher Form vor
sich hin; die Rechte scheint einen tellerförmigen Untersatz für
den Krug zu halten. Solche Krüge begegnen bei vielen Wasser-
speiern als Hinweis auf ihre Funktion.

Der nördliche Speier der Westseite zeigt die im Mittelalter
so seltene Darstellung einer nackten Frau. Im langen Locken-
haar trägt das junge Weib ein Diadem mit sechs Rosetten. Die
Hände decken Scham und Busen, wie man das z. B. von der
mediceischen Venus her kennt. Mit übereinandergekreuzten
Beinen klemmt sich die Schöne an der Turmkante fest, höchst
originell. Weichheit und Rundung der weiblichen Formen zeugt
von einem Verständnis, wie es bei mittelalterlichen Skulpturen
sonst unerhört ist. Keine Figur am ganzen Münster ist so
liebreizend, von so sicherer Eleganz wie dies rätselhafte Mäd-
chen, das übrigens in der französischen Gotik (Abb. 19) auch
begegnet15. Ist es eine Wasserfrau? Eine verzauberte Märchen-
prinzess?

Auf der ti-Seite ist der westliche Speier ein Mischgeschöpf,
halb Löwe (?), halb Mensch. Die menschlich geformten Vorder-
pfoten greifen in die langen Hängelocken. Der Schwanz ist
über den langen Rücken geschlagen, die Genitalien sind auf-
fallend deutlich angegeben.

Der östliche Speier gegen Norden ist ein Eber, tadellos er-
halten, blank und glatt wie Bronze (Abb. S. 18 o.).

Die obern Wasserspeier der Westjoche.

Nachdem der Westturm ganz oder in der Haupt-
sache vollendet war, also ganz zu Anfang des H.Jahr-
hunderts, wurden die noch fehlenden Teile der West-
joche, zumal die Mittelschiffsgewände, zur Höhe ge-
führt. Die Wasserspeier, die oben an den Pfeilern
3—6 und ///—VI sitzen, müssen ebenfalls in dieser
Zeit entstanden sein. In der Tat zeigen die Speier
an den Pfeilern 6 und VI genau dieselbe blanke,
scharfe, ich möchte sagen Erztechnik wie die Speier
des Turmes. Dagegen sind die Wasserspeier an den
Pfeilern 3—5 und III—Lvon ganz anderer, entschieden
jüngerer Struktur und Auffassung. Sieht man näher
zu, so erkennt man, dass die bekrönenden Gesimse
der Pfeiler, aus deren ringsum laufendem Laub-
ornament an den Ecken die Speier herausspringen,
zwar auf der dem Mittelschiff zugekehrten Seite noch
das frühgotische Laubwerk zeigen, dass aber die

Abb. 19. Troyes. Eglise S. Urbain.
 
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