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Galerie und Sammler: Monatsschrift der Galerie Aktuaryus, Zürich — 2. Jahrgang, Heft 11.1933/​1934

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UEBER KRITIK
VON MORITZ HEIMANN
Es wurde früher und wird wohl auch jetzt noch zuweilen dar-
über gestritten, ob Kritik Kunst sei oder Wissenschaft, — ein mü-
ßiger Streit, weil eine falsch gestellte Frage gleich mancher andern
Alternative. Sie ist weder das eine noch das andere, obgleich sie
zu Eigenschaften von beiden verpflichtet ist; sie ist ein Ding für
sich, aus eigenem Quell mit eigener Macht. Wir haben sie durchaus
als eine Geistestätigkeit zu betrachten, die keine größere Relati-
vität hat als jede andere. Zwar finden wir Kritik im Schaffensvor-
gang des Künstlers als ein Urelement, und nicht nur, sobald sich
dieser Vorgang aus dem orphischen Taumel gelöst hat, sondern von
Anfang an, schon in der ersten Lieheswahl, im ersten rhythmischen
Vorgefühl. Dennoch ist sie nicht bloß Begleiterin und Ordnerin,
sie nimmt ihren eigenen Flug, sie folgt ihrer besonderen Genia-
lität. Wäre es anders, so dürfte man in der Tat, wie der Fürwitz
manchmal will, vom Kritiker fordern, daß er bessere Kunst machen
könne als jeder von ihm getadelte Künstler. Niemand stellt diese
Forderung im Ernst, ihre Unsinnigkeit wird unmittelbar gefühlt.
Wenn wir der Kritik nicht eine volle Souveränität zugeständen, so
würde ein Mensch, der es wagte, Giotto und Rembrandt, Bach
und Beethoven, Goethe und Kleist urteilend zu erfühlen, uns als
ein Ausbund von Größenwahn lächerlich oder verächtlich sein.
Wiederum wenn ein Kritiker daran geht, selbst Kunst zu machen,
so hilft ihm die Kritik nur insofern, als sie dem Schaffensprozeß
überhaupt sich mittätig heimischt; die souveräne Kritik läßt ihn
sogleich im Stich, und er dichtet, malt und musiziert gerade so gut
oder so schlecht, wie er kann und wie er muß, — nicht, wie er will.
Indem die Kritik als geistige Gesamterscheinung von eigenen Gna-
den ist, und nicht etwa, weil sie diesem und jenem einzelnen hilft,
ist sie schöpferisch. Sie schafft ein Weltbild, wenn auch auf die
Weise, die man in der Kunst des Zeichnens Aussparen nennt; wobei
noch zu fragen ist, ob die Kunst selbst es anders macht. Und so
ist alle echte Kritik durch und durch idealistisch; ja, scheinbar
paradoxerweise ist der echte Kritiker, genau hingesehen, nicht un-
duldsam. Er will nichts vernichten, auch das Schlechte nicht; —
er tut es als Nebenwirkung, eine Hauptsache daraus zu machen,
verbleibt den Subalternen; — er ist nicht negativ. Kritik ist nur
darauf aus, daß das Gute geschaffen werde; seihst das macht nicht
ihre Lust aus, daß Gutes geschaffen ist; sie darf nicht mit Kenner-
schaft und Genießertum verwechselt werden. Goethe hat einen
Aufsatz, «Rembrandt der Denker», über ein Blatt geschrieben, das

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