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Rapitel l: Bewegung
i^toch immer wird der Historik unbefangen die Aufgabe gestellt, uns das
Geschehen sehen zu lassen, „wie es wirklich gewesen ist". Im Gegensatz dazu
muß man sich klar machen, daß jede Erkennntis eine Uebertragung des unmittel-
bar Gegebenen in eine neue Sprache, mit nur ihr eigenen Formen, Rategorien
und Forderungen ist. (G. Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie
lS07. S. 42.)
Die gotische Architektur ist die Lunst einer höchsten Ausdrucks-
steigerung. Es mag einstweilen dahingestellt bleiben, welcher geistige
Gehalt darin ist, — jedenfalls ist es nicht mehr als eine Association,
wenn man den willen, alles in die Höhe zu treiben, etwa als das
hier waltende Unendlichkeitsstreben erklärt. Denn diesen Gedanken
bleibt immer eine moderne Färbung eingemischt, weil sie auf das
individuelle Empfinden zugespitzt sind. Die Wirkung aber, die
Bauwerke dieses Stils ausstrahlen, richtet sich so wenig an das
einzelne Individuum als sie dessen Resonanz sind, sondern Produkte
der Gruppe im soziologischen Sinne wenden sie sich auch an eine
Gesamtheit: hier spricht mit allem Nachdruck die unpersönliche Lunst
des Mittelalters. Ohne jede Einkleidung mit einer Interpretation
nach der inhaltlichen Seite kann man nur sagen, daß sich die ein-
heitliche Wirkung der Gotik bestimmten Formströmungen entringt.
So kann als wissenschaftlich gesichert für eine rein stilistische Unter-
suchung nur die elementare psychologische Tatsache gelten, daß im
optischen Bild der Gotik Bewegungseindrücke vermittelt werden.
Der Eindruck rastlosen Geschehens wird durch alle Formen im
einzelnen wie im Zusammenhang erzeugt. Bewegung ist daher der
Grundbegriff aller Gotik.
Da es sich bei der vorliegenden Arbeit nicht so sehr darum
handelt, die Entwicklungslinie für jede Form zu verfolgen, sondern
(Querschnitte durch verschiedene Lrscheinungskomplexe zu legen, so
muß, um die Gotik gegenüber der Sondergotik als Wesenseinheit
 
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