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werfung des Objectes unter eine geistige Auffassung, die Beherrschung und Durchdringung der
Form und des Inhaltes mit einer Persönlichkeit.

Nach einem ersten Aufenthalt in Paris (1894/95) entstand das Kinderporträt »Im Obstgarten«,
das auf der Ausstellung der Secession im Sommer 1896 Aufsehen erregte. In ihm verkündet
sich die Entfaltung des bewussten und persönlichen Stilgefühls schon in voller Klarheit und
Bestimmtheit. Es hat sich das Wesen dieses Stils seitdem zu immer grösserer Monumentalität und
reiferer Schönheit abgeklärt: Im Winter 1895/96 schuf er das Porträt der Dame im japanischen
Costüm (Schabkunst mit Aquatinta), dann, nach einem zweiten Pariser Aufenthalt, das grosse
Blatt »Seelenkämpfe« (1898) und unter den Werken der letzten Zeit den »Ritter«, den wir in der
Jahresmappe unseren Lesern vorführen werden, und die Dachauer Abendlandschaft »Moos-
schwaige«. Diese Blätter bezeichnen bis jetzt den Höhepunkt seines Schaffens als Radirer. Seine
»Pietä«, welche diesen Sommer u. a. auf der Münchener Jahresausstellung eine goldene Medaille
erhalten hat, ist wohl technisch seine hervorragendste Leistung. Ein Blatt von dieser Grösse
ist bis dahin noch nicht radirt worden. Aber der reine Kunstgehalt steht hinter der technischen
Bedeutung einigermassen zurück; die Composition ist nicht ganz frei von akademischer Convenienz.
Auch unter seinen Strichradirungen finden sich zum Theil ausgezeichnete Arbeiten, so das
reizende kleine Kinderporträt, das diesem Aufsatze als besonderer Schmuck beigegeben werden
konnte; und selbst die für einen Künstler nicht immer angenehme und dankbare Aufgabe der
Kunstvereinsblätter, die doch in den meisten Fällen mehr oder minder starke Zugeständnisse
an die Wünsche und den Kunstverstand der Auftraggeber vorschreibt, hat er mit Geschmack zu
lösen gewusst. So hat er unter anderem ein sehr decorativ wirkendes Blatt für den Karlsruher Kunst-
verein (Vereinsgabe für das Jahr 1901) geschaffen. Aber seine volle Bedeutung als einer der charak-
teristischesten und interessantesten Erscheinungen auf dem Gebiete der modernen Radirung,
die Eigenart seiner vornehmen und durch und durch künstlerisch empfindenden Natur werden wir
in den Werken suchen, in denen er frei und aus dem Innern heraus dem vollen Drang seines
Genius folgen konnte. Es ist verheissungsvoll für die weitere Zukunft des Künstlers, dass diese
Eigenart sich in seinen letzten Arbeiten des rein malerischen Stils am reinsten und mächtigsten
verkündet. Die Consequenz und Klarheit, mit der ein grosses, über die Pflege des Handwerks hinaus-
reichendes Ziel erfasst und festgehalten wird, ist die Bedingung jedes künstlerischen Erfolges im
höheren Sinn. Ohne sie gibt es kein künstlerisches Streben, das über das Gewöhnliche hinaus will.

Karl Widmer.

Oscar Graf, »Landschaft«. Nach der Originalradirung.
 
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