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GEORG JAHN.

Jeder Versuch, ein Sondergebiet der modernen Griffelkunst eingehenderer Betrachtung zu
unterziehen, wird aus der Kenntnis von dem Schaffen Max Klingers heraus den Standpunkt fest-
legen, die Richtschnur des Urteils ziehen müssen. Heute, wo dieser im Lauf durch die Künste,
deren von* der Ästhetik festgesetzte Schranken er kühn zu Boden warf, bei der Plastik heimgekehrt
ist, erhebt sich in doppelt monumentaler Größe, wie von seinem Schicksal selbst eingegraben, das
Wort seiner Kampfschrift: »Der Kern- und Mittelpunkt aller Kunst, an den sich alle Beziehungen
knüpfen, von dem sich die Künste in der weitesten Entwicklung loslösen, bleibt der Mensch und
der menschliche Körper.« In diesem Gedanken begegnet dem grandiosen Werke, das er auf solchem
Grunde erbaute, die Summe der herben und mühevollen Erscheinungen, die sich dem tragischen
Künstlerleben Karl Stauffer-Berns entringen. Was der Japonismus, was die Antike, was Francisco
Goya für die frühesten Blätter, die »Ratschläge zu einer Konkurrenz über das Thema Christus«
und die »Radierten Skizzen«, opus 1, bedeuteten, soll nicht ausgelöscht werden. Grundlegend für
ihr Wesen aber bleibt die unerbittliche Wahrhaftigkeit in der Wiedergabe der Form, das »fleißig
Kläubeln« an dem, was objektiv meßbar ist, der zweckbewußte Realismus. Das ist es, was diese
Arbeiten innerlich mit den Werken älteren germanischen Schönheitsuchens, sei es bei Albrecht
Dürer, sei es bei Julius Schnorr von Carolsfeld, sei es bei Ford Madox Brown und Holman Hunt
verbindet. So mächtig auch bald der Strom der Phantastik bei Klinger diese geduldige, ringende
und forschende Wahrhaftigkeit überflutete, so heiß auch das Gefäß dieses technischen Könnens
von dem Feuertrank der kompliziertesten, sinnlich und spirituell aus den unergründlichen Tiefen
eines Genies quellenden Gedanken und Vorstellungen überschwoll, Vorstellungen, denen Ausdruck
zu verleihen nur eben diese Kunstgattung sich erkühnen durfte — der Form, als Kontur und
Modellierung, blieb die Herrschaft in dem neuen Reich.

Hie und da hat man versucht, Phantasiekunst und Realismus als die beiden Hauptströmungen
in der Malerei unserer Zeit in einen gewissen Gegensatz zu einander zu bringen. Das mag auch
für das Gebiet der Graphik gelten, soweit man sich bei solchem Schematismus darüber klar ist,
daß der Realismus der ersteren in der Erkenntnis von der unantastbaren Heiligkeit des wirklich-
keitsstrengen Umrisses wurzelt, während bei jener das Streben weiterführte, farbige Impressionen,
Töne durch den Kontrast von Schwarz und Weiß zu versinnlichen. Je früher aber die Grenzen
der so umschriebenen Gebiete ineinander übergingen, desto lebensvoller, reicher und ursprünglicher
ward der Ertrag der künstlerischen Arbeit. Von Klinger, dessen radiertes Werk im Wesentlichen,
von Stauffer-Bern, bei dem es, unvollendet, aber ganz abgeschlossen ist, auch abgesehen, bleibt
die Schar der deutschen Malcrradierer heute groß genug, um jeder Einzelprovinz, der strengen
Linienkunst, dem mit breiten, verschwimmenden Tönen und dem mit zarten Umrissen und abbre-
viierten Formenwerten arbeitenden Impressionismus, der dekorativen wie der intimen Landschaft
und dem Bildnis, wie dem bunten Schattenvolk der reinen Imagination einen Führer zu sichern.
Ein Vierteljahrhundert hat genügt, um eine dienende Kunst zur Selbständigkeit emporzuführen, ihr

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