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Das erste bedeutende graphische Blatt Delacroix' — einige seit dem Jahr 1817 angestellte
Versuche, Brotarbeiten, die die harte Not des Lebens ihm abzwang und die der spätere Delacroix
selbst nicht als ernst nahm, können hier unberücksichtigt bleiben — ist der »Macbeth« von 1825,
also aus dem Jahr seines Londoner Aufenthaltes. In einem die Kreide- und Schabmanier kombinie-
renden Verfahren ausgeführt, ist dieses Blatt auch in technischer Hinsicht seine erste reife Leistung;
sehr geschickt sind die besonderen Wirkungen der Schabkunst im Sinne einer Steigerung des
Ausdrucks verwendet. Nächst dem »Hamlet« waren »Othello« und »Macbeth« diejenigen Shake-
speare-Dramen, die seine Phantasie am stärksten beschäftigt haben. Ein eifriger Theaterbesucher,
hatte Delacroix in London Gelegenheit gehabt, Shakespeare auf der Bühne mit ersten Rollen-
besetzungen durch Kean und Terry zu sehen. Die berühmte Macbeth-Maske Keans hat ihm offenbar
in der Erinnerung vorgeschwebt, als er dieses Blatt zeichnete. Dargestellt ist ein Moment aus der
ersten Szene des vierten Aufzuges; nicht die häufig gemalte erste Begegnung auf der Heide, sondern
der nach blutiger Tat zum König Gekrönte in der Höhle der Hexen, um aus dem Labyrinth seiner
quälenden Gedanken nach einem Ausweg zu forschen. »Doch warum steht Macbeth da so starr
und stumm?« Den Blick nach innen gekehrt, von tausend Plänen hin und her geworfen, äußerlich
unbewegt wie aus Bronze gegossen, ganz wilde Entschlossenheit, starrt Macbeth mit übereinander-
geschlagenen Armen in die wallenden Dämpfe, die aus dem Zauberkessel aufsteigen und ihn
umbrodeln — eine Gestalt von grandioser Erfindung. Die gespenstische Beleuchtung und die wild
ausfahrenden Gesten der Weiber bringen eine seltsam spukhafte Wirkung hervor und suggerieren
in einzigartiger Weise die unheimliche Stimmung dieser Szene. Das Blatt ist programmatisch für
die Art, wie Delacroix das Metier des Illustrators verstanden wissen wollte. Nicht ein »Journaliste
du crayon«, sondern ein Magier und Visionär spricht hier, der frei aus der lebendigen Vorstellung
schafft, dessen am dichterischen Stoff einmal entzündete Phantasie ihre eigenen Bahnen weitergräbt
und in ganz persönlich selbständiger Auffassung mehr eine Variation über das Thema als eine
textgetreue Illustration zu demselben gibt.

Diese Intensität der Gestaltungskraft ist es, die auch Delacroix' Faust-Zyklus, dieses erste
monumentale Denkmal seiner illustrativen Tätigkeit, das sich zeitlich an den Macbeth unmittelbar
anschließt und in den Jahren 1826 bis 1827 entstand, in höchstem Maße auszeichnet.1 Die erstaunliche
Energie der Imagination, die hier zum Ausdruck kommt, hat bekanntlich die Bewunderung Goethes
selbst gefunden, dem Coudray 182(3 zwei der Blätter: Die Trinkszene in Auerbachs Keller und den
Vorbeiritt am Hochgericht vorlegte. Eckermann überliefert die Worte Goethes: »Die vollkommene
Einbildungskraft eines solchen Künstlers zwingt uns, die Situation so gut zu denken, wie er sie
selber gedacht hat. Und wenn ich nun gestehen muß, daß Herr Delacroix meine eigene Vorstel-
lung bei Szenen übertroffen hat, die ich selber gemacht habe, um wieviel mehr werden nicht die
Leser alles lebendig und über ihre Imagination hinausgehend finden«. Trotzdem bedeuten diese
Worte im Munde Goethes gewiß nicht ein unbeschränktes Lob, als welches sie allgemein aufge-
faßt worden sind. Goethe fand offenbar, das liest man zwischen den Zeilen, trotz aller Bewunderung
etwas Fremdes, seiner eigenen Empfindung Konträres in der Delacroix'schen Interpretation seines
Gedichtes und kleidete sein Urteil in diese diplomatische Form. Auch für uns heute ist es
nicht ganz leicht, in ein Verhältnis zu diesem »Glaubensbekenntnis« der jungen romantischen
Schule, wie Beraldi den Delacroix'schen Faust genannt hat, zu kommen; das Originelle der

1 Für die hier nicht reproduzierten Blätter der Faust-Folge verweisen wir auf den Aufsatz von Erich Hancke in der Zeitschrift »Kunst und
Künstler«, VIII (1910), 135 ff. — Abbildungen sämtlicher graphischen Arbeiten finden sich im 3., Delacroix gewidmeten Bande des »Peintre-
graveur illustre« (19e et 20e S.) von Loys Delteil. Paris 1908. Ausgaben des »Faust« und des »Hamlet« mit den Delacroix'schen Illustrationen
hat der Insel-Verlag in diesem Jahre veranstaltet.

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