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limine

niemals Zeit übrig hatte, weil sie stets zu
sehr von eigenen Plänen erfüllt war.

Als fünfjähriges Kind war sie in
Hamburg. Da machte der Hafen, obgleich
sie ihn nur einmal besuchte, einen über-
wältigenden, unauslöschlichenEindruck auf
sie. Die riesigen Schiffe flößten ihr Grauen
ein, zogen sie aber zugleich unwiderstehlich
an. Eine Zeichnung, ein Hochblatt, mit
einem solchen ins Ungeheure gesteigerten,
verkürztvon vornegesehenenSchiffsrumpf,
ist noch in jüngster Zeit ein Nachhall jener
übermächtigen Kindheitseindrücke.

Seit jeher hatte sie eine Vorliebe für
den slawischen Typus mit vortretenden
Backenknochen und Stumpfnase. Als sie
vor vier Jahren die Brünner Fabrikswelt
kennen lernte, war sie freudig überrascht,
in den dortigen Arbeitern ihren alten
Lieblingstypus wiederzufinden. Aber noch
mehr. Als sie in einer großen Brünner
Weberei den Saal betrat, wogespult wurde,
da hatte sie das Gefühl, als ob ihr das
alles längst vertraut wäre. Die ruhige Be-
wegung des Spulens war ihr etwas aus
Fieberträumen Wohlbekanntes. Ihr Groß-
vater mütterlicherseits hat mit diesen
Dingen zu tun gehabt und ihre Mutter
stammt aus der Nähe von Prag.

1894 in Wien geboren, kam sie acht-
zehnjährig an die Kunstschule für Frauen ., „ „ . ,

** " Lili Rcthi. Illustration zu Voltaires »Prinzessin von Babylon«.

und Mädchen, wo sie bis 1917 verblieb Nach der Lithographie,

und Otto Friedrich ihr Lehrer war. Dieser stille Konner wirkte nachhaltig auf sie ein, vielleicht
nicht einmal so sehr durch seine Kunst wie durch sein ganzes ruhiges und sicheres Wesen.
Friedrich ist ein wohltuendes Beispiel dafür, daß auch beim Künstler Charakter und Persönlichkeit
keine Nebensächlichkeiten sind, über die man leichten Herzens hinwegsehen kann. Gottlob ver-
mögen Männer wie er noch immer bei empfänglicher Jugend begeisterten Widerhall zu erwecken.
Fräulein Rethi, die seiner mit Worten innigster Dankbarkeit gedenkt, hat sich durch ihn besonders
in ihrer hohen, ernsten Auffassung der Kunst und des Künstlerberufes bestärkt gefunden. Unter
anderem rühmt sie höchlichst seine vorbildliche Art zu korrigieren.

Wie ernst sie ihre Kunst nimmt, dafür ist ein Beweis, daß sie Anatomie nicht etwa nach
irgendeinem Atlas für Künstler, sondern nach dem Lehrbuch für Universitätshörer von Langer und
Toldt studiert hat. Sie zeichnete auch, um sich selbst Rechenschaft über ihr anatomisches Wissen
abzulegen, nachträglich in die bei Friedrich gemachten Aktzeichnungen alle Knochen und Muskeln

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