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VOM WESEN DER DEUTSCHEN HANDZEICHNUNG IN DER
ERSTEN HÄLFTE DES XIX. JAHRHUNDERTS.

(MIT BEISPIELEN AUS DER GRAPHISCHEN SAMMLUNG DES GERMANISCHEN MUSEUMS).

Die deutsche Kunst des neunzehnten Jahrhunderts ist reich an guten Handzeichnungen. Allein
die Handzeichnung dieses Jahrhunderts hat nicht mehr die durch ein großes geistiges Ideal
bestimmte, fest in sich ruhende und klar ausgeformte Einheit des graphischen Stiles, die die Hand-
zeichnung der vorangehenden Zeit besitzt und meist über alles Zufällige und Anekdotische hinaus
zum Typischen, zum Sinnbildlichen erhebt.

Der gotischen Handzeichnung zum Beispiel liegt, aus so verschiedenartigem Anlaß sie auch
immer als Niederschlag eines geistigen oder eines Augen-Erlebnisses sich kristallisieren mag, doch
stets dasselbe Lebensgefühl, das ganz unwillkürlich die Überwindung der Materie durch die Macht
und die Gewißheit gläubigen Sehnens will, immer dieselbe zarte Rhythmik der Linie, die nur auf dem
Weg über eine entschlossene Stilisierung der Form möglich ist, ja bis zu einem gewissen Grade immer
dieselbe zeichnerische Sprache, wie sie in der Art der Umrißführung und in den plastisch formenden
Strichlagen sich äußert, zugrunde. Gewiß sind auch Unterschiede da, die durch die Persönlichkeit
des betreffenden Künstlers oder etwa durch fremde künstlerische Einwirkungen erzeugt werden,
doch wenn man zum Grundcharakter der deutschen Zeichnung der Gotik, zum Wesen ihrer Aus-
drucksweise vorzudringen sucht, wird man gewahr, daß die entscheidenden Merkmale übereinstimmen
und daß von den großen führenden Linien an, die das rhythmische Gesamtgefüge festlegen, bis zum
letzten zierlich sich kräuselnden Häkchen, das die Form rund herauszubilden strebt, alles auf eine
starke und sinnfällige Melodie eingestimmt ist. Darum haben die bedeutenderen Handzeichnungen
dieses Zeitalters auch die eindringliche, dem Gedächtnis unverlierbar sich einprägende Wirkungs-
kraft der Arabeske, des Ornamentes, der Formel. Eine bewunderungswürdige Disziplin der zeich-
nerischen Mittel, die alle nur auf das Wesentliche zudrängen, ist in ihnen, und nichts kann ihnen
genommen oder gegeben werden, was nicht ihr Gleichgewicht, ihre innere Musik, ihren künstlerischen
Sinn zerstörte. Und die gleiche gewachsene, nicht künstlich gemachte Einheit, die hier in der Weise
der Welterfassung, im rhythmischen Charakter des Liniengewebes und in der Handhabung der
technischen Sprache überall sich auswirkt, leuchtet auch aus der Zeichnung der deutschen
Renaissance und des deutschen Barocks mit der siegreichen Kraft eines Gestaltungswillens, der
weder durch Reflexion noch durch klügelndes Vielwissen um alle mögliche andere Kunst zerfasert ist.

Die Ursache nun einer derartigen naiv sicheren Klarheit und Zügigkeit des Ausdruckes der
älteren deutschen Handzeichnung ist einmal wohl in der immer lebendigen starken Macht der künst-
lerischen Überlieferung zu suchen, die die gesunden erprobten Gepflogenheiten der handwerklichen
Übung von Werkstatt zu Werkstatt, von Geschlecht zu Geschlecht treulich weitergab. Die große
Achtung und Andacht vor dem, was bedeutende Führer neu geprägt hatten, verbürgte, daß ihre

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